Wenn die Sinus­funk­ti­on zum Lebens­ge­fühl wird

von Anja Biroth

Wenn die Sinus­funk­ti­on zum Lebens­ge­fühl wird

von Anja Biroth

Abi 2021: Viel geleis­tet und ver­zich­tet, Unsi­cher­heit und Unge­wiss­heit aus­ge­hal­ten – so wer­den eini­ge mei­ner Schüler*innen ihr letz­tes Schul­jahr wohl in Erin­ne­rung behal­ten. Für ihre Abi-Zei­tung wur­de ich nach einem Foto aus mei­ner Schul­zeit gefragt. Als ich mei­ne Foto­al­ben danach durch­su­che und bei 2007 (dem Jahr mei­ner Abitur­prü­fun­gen) ankom­me, muss ich lachen: Ich – Fri­sur und Klei­dung unter­schei­den sich kaum von mei­nem gegen­wär­ti­gen Erschei­nungs­bild – und eine Freun­din – trägt eine FFP3-Mas­ke. Was mich belus­tigt, ist, dass man auf den ers­ten Blick glau­ben könn­te, das Bild stam­me aus der Gegen­wart.

In dem­sel­ben Moment wird mir aber auch bewusst, wie ähn­lich mein dama­li­ges Lebens­ge­fühl dem mei­ner Schüler*innen gewe­sen sein muss. Die Leuk­ämie­er­kran­kung der Freun­din begann bereits in der sechs­ten Klas­se, als wir nicht ein­mal wuss­ten, was „Leuk­ämie“ bedeu­tet. Gefühlt war das die ers­te Wel­le: Erwach­se­ne konn­ten zwar erklä­ren, was Leuk­ämie war, wuss­ten aber zum Groß­teil nicht, wie man damit umzu­ge­hen hat­te. Die Ärzt*innen aller­dings schon. Die The­ra­pie begann sofort, das Immun­sys­tem wur­de enorm geschwächt: Kon­tak­te ver­mei­den war ange­sagt. Geburts­ta­ge wur­den nur im klei­nen Kreis gefei­ert, damit die Freun­din kom­men konn­te. Mög­lich­kei­ten und Frei­hei­ten waren von Zah­len abhän­gig: Mehr­mals wöchent­lich erwar­te­ten wir hoff­nungs­voll die Blut­wer­te. Besu­che auf der Sta­ti­on waren nicht erlaubt, weil ich dafür zu jung war. Bei über 2000 μl Leu­ko­zy­ten war ein Tref­fen vor der Sta­ti­on jedoch mög­lich. Ansons­ten tele­fo­nier­ten wir täg­lich. Die Freun­din sehn­te sich nach Nor­ma­li­tät, kon­kret bedeu­te­te das für sie die Schu­le. Wenn es nur irgend­wie ging, woll­te sie am Unter­richt teil­neh­men, not­falls eben mit Mas­ke.

Die zwei­te Wel­le kam zum Über­gang in die Ober­stu­fe, alles wie­der­hol­te sich. Nun war ich aber alt genug, um die Sta­ti­on der päd­ia­tri­schen Onko­lo­gie und Häma­to­lo­gie zu besu­chen. Des­in­fek­ti­ons­mit­tel zier­te den Ein­gang und in den soge­nann­ten Schleu­sen­zim­mern muss­ten Besucher*innen Mas­ke tra­gen.
Auf die drit­te Wel­le folg­te eine Kno­chen­marks­trans­plan­ta­ti­on. Somit galt es noch strik­ter Begeg­nun­gen zu redu­zie­ren. Nur die Eltern und zwei wei­te­re Kon­tak­te waren erlaubt. Auch wir, die bei­den zusätz­li­chen Kon­takt­per­so­nen, hat­ten bis dahin ein gewis­ses Hygie­ne­be­wusst­sein ver­in­ner­licht, um kei­ne Über­trä­ge­rin­nen von Infek­ti­ons­krank­hei­ten zu wer­den und über die Sinn­haf­tig­keit einer Grip­pe­imp­fung nach­ge­dacht: Wür­de die­se eine Über­tra­gung des Virus erschwe­ren oder wegen damit aus­blei­ben­der Sym­pto­me begüns­ti­gen?

Unge­fähr drei Mona­te danach ist die­ses Schul­fo­to ent­stan­den, auf dem die FFP3-Mas­ke so prä­sent, aber auch ver­traut erscheint.
Als Jugend­li­che habe ich mich immer wie­der gefragt, war­um das Leben nicht ein­fach unbe­schwert und leicht sein kön­ne. Dar­auf­hin muss­te ich mir ein­ge­ste­hen, dass uns ein sol­ches Leben nie­mand zuge­sagt hat­te und dass ich mich mit einer ent­spre­chen­den Erwar­tungs­hal­tung in der Zukunft ver­lie­ren wür­de. Das Leben war­tet nicht dar­auf, irgend­wann gelebt zu wer­den, es ist jetzt, auch Mit­ten in der Kri­se. Gutes in die Kri­se zu inte­grie­ren, erleich­tert die Kri­se in das Leben inte­grie­ren zu kön­nen.

Gelernt habe ich in die­ser Zeit zudem, dass Opti­mis­mus lebens­fä­hig macht, dass Humor eine ange­mes­se­ne Form sein kann, Tra­gö­di­en zu begeg­nen, dass Gefüh­le aus­ge­hal­ten wer­den müs­sen, dass wir zu mehr imstan­de sind, als wir uns selbst zutrau­en, dass auch in freud­lo­sen Zei­ten Freu­de mög­lich ist und dass wir viel­leicht nicht immer in der Hand haben, was wir erle­ben, aber doch einen Ein­fluss dar­auf haben, wie wir es erle­ben. Am wich­tigs­ten erscheint mir rück­bli­ckend der Wert der Freund­schaft und die Erfah­rung, dass Glau­be trägt und dass wir die Stär­ke nicht immer in uns selbst suchen müs­sen, son­dern sie in Gott fin­den kön­nen.

Foto: Kel­ly Sik­ke­ma/Uns­plash