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von Gastbeitrag
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Sechs Jahre nach seinem Verschwinden hatte ich mich mit dem Verlust abgefunden und nicht mehr mit seinem Auftauchen gerechnet. Ich kenne es, solange ich denken kann: das Küchenmesser von Uroma Gertrud – leicht geschwungene Klinge von der Länge eines Brotmessers mit starkem Holzgriff, beides in Ehren ergraut.
Zusammen mit einer Bügeldecke (aus Zeiten, als auf dem Tisch gebügelt wurde) hatte meine Mutter das Messer kurz vor ihrer Hochzeit von ihrer Oma geerbt. Samt Info, dass der Griff, wie damals üblich, passend zur Hand der Nutzerin geschnitzt wurde. Immer hatte ich das Gefühl, in ihre „Handstapfen“ zu greifen, wenn ich das Messer in der Hand hielt.
Gertrud wird es vor gut 120 Jahren als Aussteuer in die Ehe mit ihrem Jakob gebracht oder kurz danach für die wachsende Familie angeschafft haben. Sechs Kinder hat es erlebt, von denen fünf beide Weltkriege überlebten. Den Umzug vom Niederrhein ins Ruhrgebiet, wo Jakob Arbeit bei der Post bekam und mein Großvater geboren wurde, hat es ebenso mitgemacht wie Gertruds Zeit als alleinerziehende Mutter im Ersten Weltkrieg. Nach der Versetzung ins heimatnahe Krefeld gehörte das Messer zu ihrem Siedlungshäuschen am Stadtrand. Dort machte es die Wirtschaftskrise der 20er Jahre, die Machtübernahme der Nazis, wegen der Jakob sich aus stummem Protest vorzeitig verrenten ließ, zum zweiten Mal Kriegselend und den Wiederaufbau samt Goldhochzeit im Heiligen Jahr 1950 mit. Vielleicht hat sich Uropa Jakob das Messer auch manchmal für seine Bienenstöcke ausgeliehen. Im selben Dorf und Jahr geboren, starben Gertrud und Jakob auch mit nur einem Jahr Abstand.
In meiner Kindheit wurde mit dem Messer vor allem das kalte Fett zum Frittieren aus dem Steinguttopf geschnitten. Nach gut hundert Jahren Küchendienst degradierte meine Mutter es zum Gartenmesser. Dort verlor ich es aus den Augen, aber nicht aus dem Sinn, und dachte, es hätte die Hausauflösung nicht überlebt.
Beim jüngsten Durchsehen der Kisten mit allem, was beim Ausräumen des Elternhauses vor sechs Jahren nicht verteilt, aber auch nicht weggeschmissen werden konnte, tauchte das Messer jetzt wieder auf — was für eine schöne Überraschung! Ein „handgreiflicher“ Zeuge aus einer anderen Zeit und Welt. Ein Zeichen für das Teilen von Brot und Vertrauen als Lebensaufgabe und für das Weitergeben von Leben über Generationen hin, ob bei Hochzeitstafeln, Beerdigungskaffees oder unzähligen Alltagsmahlzeiten.
Sieben Jahre nachdem es zuletzt zu sehen war, wäre im Juni bei der Heiligtumsfahrt Mönchengladbach ein Stück von dem Tischtuch gezeigt worden, das laut Überlieferung zum letzten Abendessen Jesu mit seinen Vertrauten gehörte. Teilen von Brot und Vertrauen als Lebens-Aufgabe und Weitergeben von Leben über Generationen hin. Corona verschiebt dieses Wiedersehen um zwei Jahre.
Uroma Gertruds Messer hilft mir durch das zweite Corona-Ostern: Das nicht Fassbare, das die Bibel Tod und Auferstehung nennt, passiert zwischen zwei greifbaren Ereignissen: einem Abschiedsessen als Henkersmahl und der Tischgemeinschaft von Emmaus – weitergehen und Leben weitergeben.
Gut, dass es greifbare Zeichen für nicht fassbare Ereignisse gibt.
Und wenn Jesus am Niederrhein gelebt hätte, das ja auch zum Römischen Reich gehörte, hätte er das Brot nicht gebrochen, sondern mit einem Messer geschnitten.
Foto: Louise Lyshøj/Unsplash