Ster­ne, Stri­che, Men­schen­kin­der

von Thomas Hoogen

Ster­ne, Stri­che, Men­schen­kin­der

von Thomas Hoogen

Foto:Thomas Hoo­gen

Tief im Süd­wes­ten der Repu­blik, kurz vor dem ers­ten Lock­down: Als ich mit Frei­bur­ger Freun­den deren Ver­wand­te nahe der Schwei­zer Gren­ze besu­che, fällt unser Blick auf ein altes Buch, das als Deko in der Die­le liegt. Als wir es öff­nen, stau­nen wir nicht schlecht. In Schnör­kel­schrift und einem die­ser end­lo­sen baro­cken Titel ist da zu lesen, dass es sich um Lebens­be­schrei­bun­gen von Hei­li­gen und Hei­ligin­nen han­delt. Dass in der Kir­che schon vor 300 Jah­ren gegen­dert wur­de, über­rascht selbst das buch­be­sit­zen­de Ehe­paar.

Mir kommt spä­ter dazu in den Sinn, dass es in man­chen süd­deut­schen Regio­nen üblich war und teils noch ist, den Nach­na­men einer Frau zu gen­dern: die Müllerin/der Mül­ler, der Schmitz/die Schmit­zin usw. In meh­re­ren sla­wi­schen Spra­chen ist das bis heu­te die (Sprach-)Regel.

Nichts Weib­li­ches bzw. Indi­vi­du­el­les außer der Anre­de blieb dage­gen auf dem Toten­zet­tel für mei­ne 1938 gestor­be­ne Groß­mutter übrig: Frau Wil­helm Hoo­gen.

Ich fra­ge mich: Wie viel (sprach­li­che) Unter­schei­dung braucht es, um dis­kri­mi­nie­ren­de Ungleich­heit auf­zu­de­cken und Gleich­be­hand­lung her­zu­stel­len? Und wann bedeu­tet Gleich­heit Begeg­nung auf Augen­hö­he, wann Uni­for­mi­tät?

In einem noch viel älte­ren Buch heißt es dazu Es spielt kei­ne Rol­le, ob ihr männ­lich oder weib­lich seid. Denn durch eure Ver­bin­dung mit Chris­tus seid ihr alle wie ein Mensch gewor­den. Das schreibt der­sel­be Christ Pau­lus, der anders­wo den Frau­en Klei­der­vor­schrif­ten macht Rede­ver­bo­te erteilt. Ist es nicht uto­pisch zu for­dern, dass alle gleich behan­delt wer­den, weil alle Men­schen sind und damit gleich? Wenn Gleich­heit nur behaup­tet, aber nicht gelebt wird, kann das auch im Gegen­teil enden, wie von Geor­ge Orwell in sei­nem Roman Ani­mal Farm beschrie­ben:

All ani­mals are equal, but some are more equal than others.

Anders­wo ringt Pau­lus mit dem Gemein­de­lei­ter Petrus (erfolg­reich) dar­um, dass nicht alle erst jüdisch wer­den müs­sen, um zur christ­li­chen Gemein­de zu gehö­ren. Was alle ver­bin­det, die sich an Chris­tus ori­en­tie­ren, beschreibt Pau­lus so:

Ihr habt nicht einen Geist emp­fan­gen, der euch ver­sklavt.
Dann müss­tet ihr doch wie­der Angst haben.
Ihr habt viel­mehr einen Geist emp­fan­gen, der euch zu Kin­dern Got­tes macht.

Dass ich Mensch und Christ bin, hat also neben dem Ent­schei­den und Unter­schei­den auch viel mit Frei­heit zu tun. Einer Frei­heit, die in Bezie­hung zu Gott (ent)steht.

Blie­be nur noch zu klä­ren, was mei­ne Frei­heit mit der ande­rer zu tun hat. Und wes Geis­tes Kind ich bin. Und was das für mein Unter­schei­den von Zeit­geis­tern heißt. So viel ist mir in der Dyna­mik von Stern­chen, Stri­chen, Leer­stel­len und diver­sen ande­ren Unter­schei­dungs­for­men klar:
Got­tes- und Men­schen­kind sein, Hei­li­ger oder Hei­ligin wer­den heißt Gleich­heit, Frei­heit und Mit­mensch­lich­keit für alle for­dern. Und vor allem leben.

Foto: Dani­el Olah/Uns­plash