Sie dreht sich nicht nur für dich

von Anja Biroth

Sie dreht sich nicht nur für dich

von Anja Biroth

Als ich am 29.07.21 mit mei­nem Auto unter­wegs war, hör­te ich im Radio, dass wir (d.h. wir Erdenbewohner*innen) den Trend, über unse­re Ver­hält­nis­se zu leben, zuneh­mend fort­set­zen. Mit dem letz­ten Don­ners­tag im Juli haben wir in die­sem Jahr den soge­nann­ten Erd­über­las­tungs­tag erreicht. Obwohl uns noch fünf Mona­te bevor­ste­hen, haben wir bereits alle Res­sour­cen, die uns in die­sem Jahr gege­ben waren, auf­ge­braucht.

Wir leben im Moment, als stün­den uns 1,74 Erden zur Ver­fü­gung, doch fak­tisch haben wir nur die­se eine. Wenn wir mit einem Men­schen an einem gedeck­ten Tische sit­zen und eine Mahl­zeit ein­neh­men, essen die aller­we­nigs­ten von uns mit einer abso­lu­ten Selbst­ver­ständ­lich­keit das Haupt­ge­richt des Gegen­übers und schie­ben die­sem nur die Vor­spei­se oder den Nach­tisch hin. Wäre unser Gegen­über ein Kind oder ein unter Hun­ger und Armut lei­den­der Mensch, wären wir womög­lich beson­ders gehemmt und beschämt, dies zu tun.

Wenn unser Kon­to­stand uns einen Urlaub für 1000 Euro ermög­licht, buchen wir gewöhn­lich kei­nen für 1740 Euro. Wenn ein Klei­dungs­stück 17,40 Euro kos­tet, legen wir an der Kas­se nicht 10 Euro hin und gehen. War­um glau­ben trotz­dem so vie­le von uns, dass es uns zustün­de, der­ma­ßen über unse­re Ver­hält­nis­se zu leben? Mög­li­cher­wei­se waren die Kon­se­quen­zen zu lan­ge nicht zu spü­ren oder nur an Orten, wo sie uns nicht direkt betra­fen. Viel­leicht hof­fen eini­ge, dass die Fol­gen nur mil­de sein wür­den oder sie nicht mehr zur eige­nen Lebens­zeit ein­trä­fen, dass die Kli­ma­ka­ta­stro­phe nicht mehr unser Pro­blem sein wür­de.

Nach­dem die Radio-Moderator*in die Bedeu­tung des Erd­er­schöp­fungs­ta­ges erklärt hat­te, stellt sie fol­gen­de Fra­ge an ihre Hörer*innen: „Lebt ihr nach­hal­tig und ach­tet ihr auf eine umwelt­be­wuss­te Lebens­wei­se?“. Sie füg­te hin­zu: „Falls nicht, ist das über­haupt nicht schlimm, das soll­te jeder für sich ent­schei­den.“ Die­se Aus­sa­ge wie­der­hol­te sie kur­ze Zeit spä­ter. Es macht mich so wütend, wenn ich Der­ar­ti­ges höre und möch­te vehe­ment wider­spre­chen: Es ist schlimm, wenn vie­le Men­schen so leben, als stün­den uns meh­re­re Erden zu. Es gibt nur die­se eine, wir beu­ten sie aus, neh­men uns, wor­auf wir kei­nen Anspruch haben und was ande­re Lebe­we­sen bräuch­ten. Wir leben auf Kos­ten der Ärms­ten und der zukünf­ti­gen Gene­ra­tio­nen.

1,74 Erden ist ein Mit­tel­wert – ich muss befürch­ten, dass ich als Europäer*in even­tu­ell sogar über die­sem lie­ge. Ich sit­ze schließ­lich im Auto und fah­re an die­sem Tag ca. 100 Kilo­me­ter. Waren die­se wirk­lich not­wen­dig und war mei­ne Fahrt ver­hält­nis­mä­ßig? Ist mein vol­ler Klei­der­schrank ver­hält­nis­mä­ßig? Der Res­sour­cen­ver­brauch der Tex­til­in­dus­trie ist enorm. Wie sieht es mit mei­ner digi­ta­len Lebens­wei­se aus? Wel­che Gerä­te brau­che ich? Muss ich stän­dig etwas in die Such­ma­schi­ne ein­ge­ben? Auch das Nach­schla­gen in ohne­hin vor­han­de­nen Büchern wäre eine Her­aus­for­de­rung, die ich mei­nem Gehirn und mei­nen Hän­den durch­aus häu­fi­ger zumu­ten könn­te und kein Ener­gie­auf­wand, der mir scha­de­te.

Wie sieht es mit mei­ner Ernäh­rung aus? Sind Urlaubs­flü­ge – ins­be­son­de­re Kurz­flü­ge – zu recht­fer­ti­gen? Es ist schlimm, wenn wir die­ses Wun­der des Uni­ver­sums in weni­gen Jahr­hun­der­ten rui­nie­ren und zulas­sen, dass Lebens­räu­me zer­stört wer­den und unge­kann­te Umwelt­ka­ta­stro­phen auf die Mensch­heit zukom­men. Wie kann unse­re Lust am Rei­sen und an bestimm­ten Lebens­mit­teln ver­hält­nis­mä­ßig und gerecht­fer­tigt erschei­nen – ange­sichts dro­hen­der Kata­stro­phen und Lei­d­er­fah­run­gen? Wenn wir wei­ter­hin so über unse­re Ver­hält­nis­se leben, hat das schlim­me Kon­se­quen­zen – und: Nein, man ent­schei­det das nicht nur für sich. Es gibt Hand­lun­gen, die haben Aus­wir­kun­gen auf ande­re. Die Ent­schei­dung, ob wir nach­hal­tig leben, ist nicht gleich­zu­set­zen mit der Fra­ge­stel­lung, ob man sei­ne eige­nen vier Wän­de schwarz oder gelb strei­chen möch­te.

Es geht um die Zukunft unse­res Pla­ne­ten, um die Zukunft alles Leben­den. Die­ser falsch ver­stan­de­ne Indi­vi­dua­lis­mus irri­tiert und ver­är­gert mich. Ich muss mir gleich­zei­tig ein­ge­ste­hen, dass ich dem Kli­ma­wan­del sowohl im pri­va­ten als auch beruf­li­chen All­tag häu­fig nicht die Bedeu­tung bei­mes­se, die die­sem zukom­men soll­te. Auch ich muss mei­ne Lebens­wei­se ändern – heu­te noch. Ein so umfas­sen­des, kom­ple­xes Pro­blem bedarf umfang­rei­cher Reak­tio­nen auf allen Ebe­nen: inter­na­tio­nal – lokal, öffent­lich – pri­vat, gesell­schaft­lich – indi­vi­du­ell, poli­tisch, wirt­schaft­lich, wis­sen­schaft­lich usw. Die Son­ne dreht sich nicht um mich, die Erde wird sich noch wei­ter­dre­hen, wenn ich nicht mehr bin – die Fra­ge ist aber: Wie lan­ge noch – wie lan­ge wird sie ein lebens­freund­li­cher Ort sein?

Foto: NASA/Uns­plash