Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten

von Mareile Mevihsen

Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten

von Mareile Mevihsen

Ich bin groß gewor­den in einer Welt vol­ler Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten.

Es gab kla­re Rol­len­bil­der in mei­ner Fami­lie. Es gab so etwas wie Jah­res­zei­ten jen­seits von ganz­jäh­rig 15 Grad. Als die Mau­er fiel war ich fünf Jah­re, ich erin­ne­re mich noch. Seit­dem sind die Gren­zen offen, letzt­lich euro­pa­weit. Oder waren es zumin­dest bis zum Früh­jahr die­ses Jah­res. Ich war im mehr als hal­ben Euro­pa, in Bra­si­li­en, Nord­ame­ri­ka.

Seit 35 Jah­ren pas­siert an Hei­lig­abend in mei­ner Fami­lie exakt das­sel­be. Und das sind nur die Jah­re, die ich zäh­len kann. Seit 15 Jah­ren brun­chen wir einen Tag vor Weih­nach­ten mit Freun­den, ein­mal im Jahr ansto­ßen auf das Leben. Seit über 20 Jah­ren ver­brin­ge ich den Mar­tins­tag mehr oder weni­ger ähn­lich. Heu­te nicht und über­haupt: Die­ses Jahr nicht. Viel­leicht nie wie­der.

Lie­be Sabi­ne, schrieb ich neu­lich einer Bekann­ten, wir sehen uns im Früh­jahr – viel­leicht. Das glei­che könn­te ich Stef­fi in Ber­lin schrei­ben. Bei Aly­sha, die mich zu ihrer Hoch­zeit nach Ame­ri­ka in die­sem Herbst ein­ge­la­den hat­te, bei mei­nen Bekann­ten in Finn­land, da sieht es schon anders aus. Ganz zu schwei­gen von Katha­ri­na, die am ande­ren Ende der Welt in Bang­kok lebt. Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten. Es war selbst­ver­ständ­lich, dass es kei­ne Gren­zen gab. Viel­leicht finan­zi­el­le, viel­leicht zeit­li­che, indi­vi­du­el­le. Aber alles schien jeder­zeit mög­lich. Wie seh­ne ich mich danach zu fei­ern, zusam­men zu sit­zen, euch zu umar­men. Nichts ist mehr selbst­ver­ständ­lich, das macht trau­rig, wütend, ver­zwei­felt, sehn­süch­tig und vie­les mehr.

Aber letzt­lich muss ich mir auch ein­ge­ste­hen: Eigent­lich gibt es kei­ne Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten in die­ser Welt. Es gibt eine Garan­tie für gar nichts. Ich bin unend­lich froh, dass es nicht mehr selbst­ver­ständ­lich ist, dass ich als Frau hin­ter den Herd gehö­re, son­dern dass ich die Wahl habe, was und wer ich sein möch­te. Dass ich arbei­ten kann in einem Beruf mei­ner Wahl, der mir Freu­de berei­tet. Ich kämp­fe mit in die­sem Wan­del in Kir­che in der Hoff­nung, dass sie neu wird, dass sie glaub­wür­dig wird und men­schen­nah. Ich bin froh dass die Natur um Hil­fe ruft und ich spü­ren kann, dass es nötig ist umzu­keh­ren, um den Kli­ma­wan­del auf­zu­hal­ten. Ich bin dank­bar dass ich neu anfan­gen darf und spü­ren kann, wie ich dar­an wach­se.

Nichts davon ist selbst­ver­ständ­lich. Nicht unse­re Welt, nicht dass ich leben darf, nicht dass ich geliebt bin. Nicht­mal mehr das Amen in der Kir­che.

Wie erfüllt mein Leben sein könn­te, wenn ich das anneh­men könn­te, dass nichts selbst­ver­ständ­lich ist. Viel­leicht kommt nach der Unsi­cher­heit etwas ande­res: Ehr­li­ches, unge­schön­tes Glück. Ech­te Dank­bar­keit. Ech­tes Leben. Ech­te Lie­be.

Und ich voll Ver­trau­en schrei­ben könn­te: Wir sehen uns. Nächs­tes Früh­jahr. Oder über­nächs­tes. Eines Tages. Aber wir sehen uns wie­der, dar­an glau­be ich fest. Wenn ich das schrei­ben könn­te, das wäre doch schön.

Foto: John Sal­vi­no/Uns­plash