Schrödingers Sehnsucht
von Tobias Kölling
Schrödingers Sehnsucht
von Tobias Kölling
Ich möchte hier möglichst nicht von Corona schreiben. Es ist sowieso ungeheuer schwer, noch andere Gesprächsthemen zu finden – weil man ja fast nichts mehr erleben kann. Und so dankbar ich Virologen für ihre Einordnung bin, lande ich doch immer wieder bei dem Satz, den der wunderbare Curt Goetz mal seinem „Dr. Prätorius“ geschrieben hat: “Gelehrt sind wir genug! Was uns fehlt ist Freude, was wir brauchen ist Hoffnung, was uns nottut ist Zuversicht, wonach wir dürsten ist Liebe und wonach wir verschmachten ist Frohsinn!”
Und – trotzdem: Ich muss da mal was loswerden.
Seit Corona zu nah kam arbeite ich ganz gut im Home-Office. Da ich allein wohne, konnte ich meine Vorratsschränke ohne großes Hamstern auffüllen und lange Zeit zu Hause bleiben. Zweimal habe ich gegen den Budenkoller den Fotoapparat geschnappt und bin raus, in großem Bogen um Viersen; durch graue Straßen, weil ich weiß, dass sich im grünen Wald und auf den Feldern die Leute immer noch zu dicht tummeln.
Ich schaffe es, nur knapp alle zwei Wochen einzukaufen. Vorgestern wieder – und weil der Drogeriemarkt schon zu war, gestern nochmal. Und das war seltsam. Zuerst so ähnlich, wie ins Kino gehen: Einfach mal was anderes, Abenteuer, Ablenkung! Sobald ich im Laden war der andere Effekt: Was für ein komischer Zombiefilm. So ganz ohne Zombies; dafür ein Ausweichballett im Produktparadies mit vereinzelt leeren Regalen und hilflos geklebten Infozetteln. Aber das Verhalten der Menschen schien mir verändert – deutlicher in zwei Gruppen gespalten: Viele sehr vorsichtig, mit Handschuhen, Mundschutz oder zumindest in großen Schleifen laufend. Wenige, die immer noch keine Gefahr sahen, einem zu nah kamen und lauter redeten als die anderen.
Ganz plötzlich wuchs das flaue Gefühl im Bauch, dass unsere Situation die Menschen zeitweise verändert. Ich merkte, dass mir Wochen zu Hause angenehmer waren als zwanzig Minuten Einkauf „draußen“. Die Angst eingesperrt zu sein war durch die Angst draußen zu sein abgelöst. Und ich merkte, dass ich deutlich früher unangenehm fand, wenn jemand in meine Richtung ging, und dass ich selbst größere Bögen schlug. Ich beobachtete zumindest so etwas ähnliches wie Angst vor Menschen, Angst vor Kontaktaufnahme, die nur noch auf einem Monitor sicher schien.
Tags darauf im Drogeriemarkt beim Bezahlen ergab sich ein kurzes Gespräch mit der mir völlig unbekannten Kassiererin. An Kassen bin ich meistens maulfaul freundlich, möchte möglichst wenig Zeit stehlen, weil ich Arbeit an der Kasse gut kenne. Diesmal ergaben sich einige Minuten, während ich meinen Einkauf einräumte – auch weil kein Kunde mehr nach mir anstand. Und es tat gut mit jemandem zu reden.
Auf dem Heimweg beschäftigte mich das und ich stieg etwas besser durch. Ich habe Sorge, dass wir nach dieser Corona-Zeit uns als Gesellschaft, als Individuuen verändern und instinktiv mehr Abstand halten. Körperlich und innerlich. Ich habe keine Angst vor der Angst.
Kurz bevor ich sie verlieren könnte habe ich Sehnsucht nach der Sehnsucht.
Foto: Alex Ivashenko/Unsplash