Omas Poesiealbum
von Lucia Traut
Omas Poesiealbum
von Lucia Traut
Seit einigen Jahren hab ich wirklich Probleme, in Weihnachtsstimmung zu kommen. Keine Sorge, ich stimme nicht den Klagegesang an mit “zu viel Stress, zu viel Konsum”. Das ist etwas, das ich ja selbst ändern könnte. Nein, ich empfinde eine so große Zerrissenheit zwischen der riesigen Vorfreude meiner Kinder, den wörtlich strahlenden Kinderaugen und ihrer Begeisterung für alle Advents- und Weihnachtsrituale, mit denen wir eine vermeintlich heile Welt zaubern — und eben der “echten Welt” da draußen, die alles andere als heil ist. Ich hab in diesem Jahr so viele kluge Zeitanalysen darüber gelesen, dass unserer Gesellschaft das Hoffen auf die Zukunft verloren gegangen ist. Aber wie soll man Weihnachten wirklich feiern, ohne auf die Zukunft zu hoffen?
Vor ein paar Jahren bin ich auf ein besonderes Buch gestoßen, das mir zuverlässig hilft, meine vorweihnachtliche Betrübnis in Perspektive zu bringen und ein wenig aufzuhellen: das Poesiealbum meiner Oma. Dieses Büchlein ist was besonderes, es wird in diesem Jahr 80 Jahre alt. Meine Oma hat es von ihrer Mutter Weihnachten 1944 geschenkt bekommen. „Kriegsweihnacht 1944“ hat die Mutter meiner Oma auf die erste Seite geschrieben. Und man sieht dem Büchlein an, dass es aus richtig schlechten Zeiten stammt. Es ist kein teures Buch aus edlem Papier, sondern nur ein billiges Schreibheft. Aber die Mutter meiner Oma hat es sorgsam in einen dunkelroten Stoffrest eingebunden und mit Kordel und Stickbildern verziert.
Der Familie meiner Oma ging es damals zu dieser Kriegsweihnacht 1944 ziemlich schlecht, wie so vielen Familien aus dem Ruhrgebiet. Es gab nur improvisierte Geschenke und auch die waren wahrscheinlich hart vom täglichen Bedarf abgespart. Die Einträge zeigen, dass die Wohnung meiner Oma von Bomben zerstört und die Familie irgendwo auf dem Land in eine Notunterkunft gezogen war. Die Lehrerin meiner Oma schrieb, dass meine Oma in dieser Zeit sehr „tapfer“ gewesen sei. Das klingt nach Armut, Leid, Elend und sehr viel Heimweh. Das klingt danach, was auch in diesem Jahr so viele Kinder und Familien überall auf der Welt durch Krieg, Flucht und Armut erleiden müssen. Das klingt nach dem, was wir in der Weihnachtsgeschichte lesen können — denn auch auch da wird ja eine Fluchtgeschichte erzählt: in einem Stall schlafen müssen, nach Ägypten fliehen müssen — das ist nicht Abenteuer-Erlebnis-Urlaub!
Ich lese mir dann die Gedichte durch, die Verwandte, Freundinnen und Lehrer meiner Oma in ihr Poesiealbum geschrieben haben. Die altmodischen Sprüche entsprechen nicht meinem Geschmack, aber sie rühren mich trotzdem an. Mitten in der schweren Kriegs- und Nachkriegszeit sprechen sie von Liebe, von Treue, von Glück, von Hoffnung, Friedfertigkeit, Rechtschaffenheit und Mut, von Engeln und von Gott. Zum Beispiel der erste Eintrag meiner Uroma, datiert mit „Kriegsweihnacht 1944“: “Drei Worte machen leicht und licht, was immer schwer und trüb. Im Leid, mein Kind, vergiss sie nicht, sie heißen: Gott zu lieb.”
Wenn ich diese Worte kurz vor Weihnachten lese, fällt mir auf: Meine Uroma spricht hier die gleiche Sprache wie die Engel in der Weihnachtsgeschichte. Sie benutzt fast die gleichen Worte. Sie verkündet ihrer Tochter mitten in Krieg und Angst Frieden und Freude für alle, die mit Gott in Liebe verbunden sind.
Ich stelle mir vor, wie meine Uroma an Heiligabend 1944 so wie ich heute dagesessen hat und nach den richtigen Worten suchte. Ich stelle mir vor, dass sie sich verzweifelt fragte, welche Zukunft ihrer Tochter, meiner Oma, dem Kriegskind, wohl bevorsteht. Ich stelle mir vor, dass sie mit Tränen in den Augen auf das Jesuskind in ihrer Weihnachtskrippe geschaut hat.
Und ich glaube, dass in diesem Augenblick mit meiner Uroma das passierte, was damals auch mit Maria und Josef und den Hirten beim Anblick des Christkindes geschehen ist. Was mit uns allen geschieht, wenn wir ein neugeborenes Kind anschauen. Dieser Anblick verwandelt uns alle. Da liegt ein neues Leben. Es ist winzig klein, wahnsinnig verletzlich und schutzbedürftig. Alle spüren es, alle werden ruhig, sind hingerissen, werden selbst ganz zart, achtsam, friedfertig, liebevoll. Alles andere rundherum wird unerheblich, nur dieses Kind und sein Wohlergehen zählen noch. Wie damals in Betlehem:
Beim Blick auf das Neugeborene können wir alle diesen Hoffnungsschimmer spüren: Hier liegt ein neues Leben, eine Zukunft, die uns anvertraut ist. Und wenn wir uns darauf einlassen, dieses Kind, dieses neue Leben und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt zu stellen, jeden Tag: Dann kann es nur besser werden mit uns und mit dieser Welt. Gott vertraut uns mit dem neugeborenen Kind in der Krippe, mit jedem neugeborenen Kind, seine Zukunft an. Er vertraut uns, dass wir es schaffen, uns gut um die Zukunft zu kümmern. Schaffen wir es, uns auch selbst zu vertrauen? Der Hoffnung zu trauen?
Auf der letzten Seite im Poesiealbum meiner Oma befindet sich ein kunstvoll selbstgezeichnetes Bild von zwei Schwalben, die zwischen blühenden Blumen auf einer Wäscheleine sitzen. Daneben steht: „Dass wir einmal so glücklich werden wie dieses Schwalbenpaar, das hofft von ganzem Herzen: Dein treuer Hans“. Hans ist der Mann, den meine Oma geheiratet hat, mit dem sie fünf Kinder bekam, sehr glückliche und auch sehr schwere Zeiten durchlebte und mit dem sie 60 Jahre verheiratet war. Ihre Hoffnung und ihr Vertrauen in die Zukunft wurden nicht enttäuscht.