Mons­ter des All­tags

von Tanja Hannappel

Mons­ter des All­tags

von Tanja Hannappel

Unter­richt in mei­ner 12. Klas­se. Tat­säch­lich gar nicht mal so sel­ten ein Ort, der mich her­aus­for­dert wie berei­chert und voll von über­ra­schen­den und nach­denk­lich machen­den Momen­ten ist. Doch an die­sem Tag ganz beson­ders. The­ma der letz­ten Wochen war die christ­li­che Escha­to­lo­gie: Befremd­lich wir­ken­de mit­tel­al­ter­li­che Bil­der wichen schnell per­so­na­len Vor­stel­lun­gen von einem Fege­feu­er als Moment der abso­lu­ten Selbst­er­kennt­nis im Ange­sicht Jesu und des selbst­be­stimm­ten „Selbst­ge­rich­tes“ – Ideen, die die Schü­le­rIn­nen bewun­derns­wert frisch, offen und kri­tisch reflek­tier­ten.

An die­sem Tag galt es, dem Begriff der Sün­de näher­zu­kom­men – für mich per­sön­lich schon seit mei­ner Ers­ten Staats­examens­ar­beit ein span­nen­der wie schwie­ri­ger Begriff. Ich kon­fron­tie­re die Schü­le­rIn­nen mit einem für sie – und viel­leicht für vie­le – neu­em Bild die­ses sper­rig gewor­de­nen Begriffs. Wir tas­ten an: Was kann Sün­de bedeu­ten, wenn Sie kei­ne Über­tre­tung eines gött­li­chen Gebo­tes, kei­ne bana­le Diät­sün­de, son­dern – per­so­nal ver­stan­den – Selbst­ent­frem­dung von uns selbst, von unse­ren Mit­men­schen und letzt­lich auch von Gott ist? Aus­ge­hend von Chris­ti­an Mosers Post­kar­ten­set der „Mons­ter des All­tags“ erhal­ten die Schü­le­rIn­nen die Haus­auf­ga­be, ihre „klei­nen Mons­ter“ zu zeich­nen, also Hal­tun­gen oder Ver­hal­tens­wei­sen, die sie von sich selbst und ande­ren ent­frem­den; eine Auf­ga­ben­stel­lung, die immer auch ein Wag­nis ist, die nur funk­tio­niert, wenn ein ech­tes Ein­las­sen geschieht, wenn Offen­heit und Ver­trau­en vor­han­den ist.

Es folgt die nächs­te Stun­de und ein Moment, der mich nach­hal­tig beein­druckt und bis heu­te beschäf­tigt. Nach eini­gen ande­ren Schü­lern zeigt eine Schü­le­rin ihr gezeich­ne­tes Bild: Ein kaum noch erkenn­ba­res Männ­chen ist zu erken­nen. Der gan­ze Ober­kör­per ist über­deckt von einem rie­si­gen Okto­pus, nur die klei­nen Bei­ne und her­un­ter­hän­gen­de Arme sind noch erkenn­bar. Die lan­gen Arme des Unge­heu­ers ver­hin­dern das Heben der Arme, deren Hän­de kaum erkenn­bar einen Mal­pin­sel und ein klei­nes Herz hal­ten. In den Fang­ar­men hält der Okto­pus ver­schie­de­ne Din­ge: Ein Schild, auf dem „Abitur“ steht, Bal­lett­schu­he, ein Ohr und vie­les mehr. Ihr Mons­ter, ihre Selbst­ent­frem­dung, ihre „Sün­de“ nennt sie… „Erwar­tun­gen“.

Ich muss schlu­cken. Sel­ten habe ich einen sol­chen Arbeits­auf­trag so über­zeu­gend, per­sön­lich und dazu noch künst­le­risch stark umge­setzt gese­hen. Was mich dar­an so bewegt, ist nicht nur das Gefühl, hier Schü­ler echt erreicht zu haben (Und nein, so ger­ne wir Leh­rer das hät­ten, so häu­fig schaf­fen wir dies lei­der nicht), son­dern vor allem, dass die Schü­le­rin dar­in so viel dar­stellt, dass auch ich ken­ne: In die­sen Erwar­tun­gen, die die Schü­le­rin wie ein rie­si­ges Unge­heu­er in ihrem Griff haben, steckt so viel, das ich selbst ken­ne: Erwar­tun­gen vom Job, immer ein „offe­nes Ohr“ für Freun­de haben, selbst gesteck­ten Zie­len nach­kom­men, Sport trei­ben… Immer wie­der ertap­pe ich mich doch selbst dabei, nie­man­den zu kurz kom­men las­sen zu wol­len, es allen recht machen zu wol­len, nicht Nein sagen zu kön­nen. Wenn ich ehr­lich bin, könn­te ich die vie­len Ten­ta­kel des Okto­pus­ses belie­big mit eige­nen klei­nen Sym­bo­len und Schil­dern fül­len.

Und bei all die­sen schö­nen und oft erstre­bens­wer­ten Din­gen, die da in den Ten­ta­keln ste­cken, bleibt doch die Fra­ge, wo dabei das klei­ne Männ­chen bleibt; hier so lie­be­voll gezeich­net mit einem Pin­sel und einem klei­nen Herz in den her­un­ter­hän­gen­den Armen. Und das ist hier nicht nur ego­is­tisch gedacht, son­dern auch im Sin­ne einer Ent­frem­dung, eben nicht nur von sich selbst, son­dern gera­de auch von denen, die hier als Sym­bo­le ver­tre­ten sind: Von Freun­den, Kol­le­gen, Fami­lie… von Gott? Ech­te Kom­mu­ni­ka­ti­on, ech­te Nähe, ech­tes Sich-zei­gen ist so ja gar nicht mög­lich, schließ­lich ist die Figur unter ihrem Mons­ter ja kaum noch zu sehen…

Und so regt die­ses Bild mich immer wie­der an, mich selbst zu fra­gen: Wo sind mei­ne „klei­nen Mons­ter“ im Leben? Wo bin ich aus Gewohn­heit, aus Anpas­sung, aus Angst nicht ich selbst, wo kann ich mich nicht für ande­re öff­nen, ihnen gar kein ech­tes offe­nes Ohr schen­ken? Wo las­se ich auch Gott nicht in mein Leben vor lau­ter Druck, Erwar­tun­gen, Geschäf­tig­keit? Und ist er – neben ech­ten Erfah­run­gen von Freund­schaft, Zunei­gung, Lie­be – nicht der eigent­li­che Schlüs­sel, um mich von die­sen „Sün­den“ zu befrei­en, um mir zu sagen: Ich sehe dich! Du bist genau­so rich­tig wie du bist!

Foto: Jeahn Laffitte/Unsplash