Mar­tins­zug und ech­te Mar­tins­bir­nen

von Nils Gerets

Mar­tins­zug und ech­te Mar­tins­bir­nen

von Nils Gerets

Wie vie­le Men­schen braucht es für einen Mar­tins­zug? Seit ges­tern lau­tet mei­ne per­sön­li­che Ant­wort: Zwei!

Er kommt mir ent­ge­gen, die­ser Mar­tins­zug. Ohne Mar­tins­mann, ohne Pferd, ohne Bett­ler, ohne Blas­ka­pel­le, ohne leuch­ten­de Later­nen, ohne Men­schen­mas­sen. Mit­ten am Tag, nach einem lan­gen Spa­zier­gang in der Natur, zwi­schen Obst­wie­sen und Acker­flä­chen, bei strah­len­dem Son­nen­schein und 15°Grad – eine Mut­ter mit ihrem klei­nen Kind, Hand in Hand. Ich sehe sie schon von wei­tem, wie sie lang­sam auf mich zukom­men. Ich aber habe es eilig, denn die spon­ta­ne Aus­zeit war ohne­hin schon län­ger gewor­den als von mir geplant; ich muss­te drin­gend zurück an den Schreib­tisch. Wäh­rend wir uns auf­ein­an­der zube­we­gen, kann ich ein­zel­ne Wor­te hören: „St. Martin…ritt…Schnee und Wind…fort geschwind.“ Und ich kann nicht anders, als inner­lich in das alte Mar­tins­lied ein­zu­stim­men und es vor mich hin­zu­sum­men. Schö­ne Erin­ne­run­gen an mei­ne eige­ne Kind­heit wer­den wach.

Ich stop­pe kurz ab, um die bei­den vor­bei­zu­las­sen, grü­ße sie kurz und bie­ge dann zügig in den nächs­ten Weg ein. Gedank­lich blei­be ich aber wei­ter­hin bei die­sem Mar­tins­zug. Ich fra­ge mich, wie lan­ge wohl noch Men­schen die­ses Lied ken­nen und sin­gen wer­den? Ob aktu­ell wegen Coro­na über­haupt irgend­wo Mar­tins­zü­ge statt­fin­den? Und was so ein Hei­li­ger wie Mar­tin in der heu­ti­gen Zeit eigent­lich noch für eine Bedeu­tung für Men­schen hat? Wür­de ich so han­deln …

Wäh­rend ich so in Gedan­ken bin, sehe ich auf ein­mal, wie auf der angren­zen­den Obst­wie­se ein älte­rer Mann ver­sucht eine gro­ße Lei­ter an einen hohen Bir­nen­baum zu leh­nen. Er stemmt sie mit aller Kraft hoch, kann sie aber nicht hal­ten, so dass sie kra­chend zurück auf die Erde fällt. In mei­nem Kopf sehe ich schon, wie der Mann beim nächs­ten Ver­such ent­we­der von der Lei­ter erschla­gen wird oder kur­ze Zeit spä­ter von der Lei­ter fällt und sich alle Kno­chen bricht. Ohne viel nach­zu­den­ken, bie­te ich ihm also mei­ne Hil­fe an. Er zögert, bezwei­felt das ich es über­haupt über den Wei­de­zaun schaf­fe und ist dann ver­blüfft, als ich doch neben ihm ste­he. Gemein­sam heben wir die Lei­ter auf, wuch­ten sie an den Bir­nen­baum. Wäh­rend er auf der Lei­ter ste­hend die Bir­nen pflückt, hal­te ich die Lei­ter fest, damit er nicht das Gleich­ge­wicht ver­liert und sich womög­lich das Genick bricht. Schnell sind die bei­den Eimer mit den gepflück­ten Bir­nen gefüllt. Sein über­schwäng­li­cher Dank ist mir unan­ge­nehm, eben­so wie die geschenk­ten Bir­nen. Ich kann sie aber schlecht ableh­nen, obwohl sie nicht alle in mei­ne Jacken­ta­sche pas­sen. „Neh­men Sie die bit­te mit! Allei­ne hät­te ich das wohl nicht geschafft. Dan­ke!“, sagt er mir zum Abschied.

Wäh­rend ich also mit den Bir­nen in den Hän­den ver­su­che über den Zaun zu klet­tern, kommt zur glei­chen Zeit mein Mar­tins­zug wie­der um die Ecke. Mut­ter und Kind sind anschei­nend umge­kehrt und eben­falls auf dem Rück­weg. Sie sin­gen noch immer das Mar­tins­lied: „…der Bett­ler rasch ihm dan­ken will. Sankt Mar­tin aber ritt in Eil hin­weg mit sei­nem Man­tel­teil.“ Bes­ser hät­te das auch Hol­ly­wood wohl nicht insze­nie­ren kön­nen – aber es war live!

Da ich fin­de, dass so viel Aus­dau­er beim Sin­gen bei einem Mar­tins­zug belohnt wer­den soll­te, schen­ke ich den bei­den zwei Bir­nen. „Das sind ech­te Mar­tins­bir­nen“, sagt die Mut­ter zu ihrem Kind, das mich mit gro­ßen, leuch­ten­den Augen ansieht. „Wir haben gese­hen, wie sie dem Mann gehol­fen haben. Gut, dass es hilfs­be­rei­te Men­schen wie sie gibt.“

Es ist klar: Weder war der älte­re Mann ein Bett­ler, noch ich der Hei­li­ge Mar­tin. Und doch wirk­te das Gan­ze wie ein merk­wür­di­ges Mar­tins­spiel, in das ich unge­plant hin­ein­stol­per­te. Noch immer stel­le ich mir die Fra­ge, ob ich die Situa­ti­on auf der Obst­wie­se über­haupt wahr­ge­nom­men hät­te, wenn ich nicht vor­her mei­nem Mar­tins­zug begeg­net wäre.

Wie vie­le Men­schen braucht es für einen Mar­tins­zug? Zwei! – wenn sie die Erin­ne­rung an die Hilfs­be­reit­schaft des Hei­li­gen Mar­tin wach hal­ten und damit ande­re Men­schen zum Wahr­neh­men von Hil­fe-Bedürf­ti­gen sen­si­bi­li­sie­ren und zum Han­deln moti­vie­ren.

Foto: Mekht/Uns­plash