Jakob
von Mareile Mevihsen
Jakob
von Mareile Mevihsen
Der Tag an dem Jakob beerdigt wurde, hätte schöner nicht sein können. Der Himmel war blau, die Vögel zwitscherten und die ersten Frühlingsboten schickten ihre Knospen der Sonne entgegen, die es an diesem Morgen vermochte, erste Wärme auf die Wangen zu zaubern. Es war der zweite Corona-Frühling, der 15.März 2021. Und der Himmel über Jakobs Grab hing voller Luftballons.
Jakob wurde 2018 geboren als erstes Kind von Sven, meinem Cousin und Marina, seiner Frau. Die Diagnose “Spina bifida” war schon früh in der Schwangerschaft bekannt geworden. Alles anders. Nicht das was du dir wünschst und vorstellst, wenn du an ein eigenes Kind denkst. Ich war durch den Prozess mit der gleichen Diagnose bereits mit einer befreundeten Familie gegangen und trotzdem: Ich kann mir nicht vorstellen, wie die beiden sich gefühlt haben müssen. Und ich habe in dieser anderen Familie auch erlebt, dass ihnen gesagt wurde “Vielleicht treiben sie das Kind besser ab.“
Was auch immer Sven und Marina gefühlt haben, nach außen hin waren sie ein Fels in der Brandung. Mit einer Offenheit, Authentizität und Gelassenheit kommunizierten sie “Wir bekommen ein Kind mit Behinderung. Es wird vermutlich nie laufen oder selbst zur Toilette gehen können. Aber es ist unser Kind und wir freuen uns”. Wie es in ihnen aussah, das habe ich erst in diesen Tagen erfahren, als wir darüber sprachen, ob ich über Jakob schreiben darf. Aber damals, vor seiner Geburt, da waren sie der Fels, der nicht wankte. Mutig und zuversichtlich gegenüber dem, was sie erwartete.
Jakob wurde geboren und direkt nach der Geburt operiert. Und es geschahen Wunder. Jakob wuchs und Jakob lachte. Und Jakob lief. Anders als andere, vielleicht langsamer als andere. Und doch ein Kind wie jedes andere. Mit fünfzehn Monaten, es war Advent, kam der Rückschlag. Hirninfarkte, monatelange Reha. Es bleiben schwere neurologische Beeinträchtigungen, Blindheit, Epilepsie.
Der Fels Sven und Marina wankte nicht. Unerschütterlich standen sie an seiner Seite. Gingen diesen Weg mit ihrem Kind. Der behindertengerechte Hausumbau, der integrative Kindergarten, Home-Office aus der Reha. Wieder Advent. Ein Zeitungsartikel, großformatig, über ihre Familie, Plätzchen backen mit Jakob. “Die Zeit mit ihm genießen”, werden seine Eltern zitiert. Da wussten sie schon, dass ihr Kind vermutlich nicht alt wird. Der Fels wankte nicht.
Drei Monate später starb Jakob an den Folgen seiner Erkrankung mit zweieinhalb Jahren. Als Sven vom Einkaufen kam, stand der Notarzt vor der Tür. Du gehst einkaufen und kommst zurück und du rechnest ja jederzeit damit und du weißt ja darum und trotzdem: Du gehst einkaufen und du kommst zurück und dein Kind ist tot. Und die Brandung schlägt hoch. Und der Fels hielt stand.
Am Tag von Jakobs Beerdigung befindet sich die Welt noch im Lockdown. Beerdigungen gehen, mit Abstand und Maske. Es ist so voll. Da sind hunderte Menschen. Jakobs halber Kindergarten. Und alle bekommen Helium-Ballons.
In die Kapelle geht nur die engste Familie, aber draußen kann man die Musik hören. “Alles ist jetzt” von Bosse. Wer zur Hölle spielt dieses Lied auf der Beerdigung des eigenen Kindes? Wer ist so unfassbar stark am schwärzesten Tag ein Lied zu spielen, das voll von Hoffnung und Zuversicht ist?
Und so steht ihr am Grab. Die Vögel zwitschern, die Knospen blühen, der Himmel ist blau und hundert Ballons. Umarmungen sind verboten wegen der Abstandsregeln. Wir sehen uns an. Eure Augen so tief. Ich erhasche einen Blick auf die Ewigkeit.
Unter @ballongrab auf Instagram, haben Marina und Sven ihre Geschichte erzählt. Zum Mutmachen, gegen das Vergessen und für die Hoffnung.
Und wann immer ich jetzt dieses Lied höre, denke ich an euch. Und an Jakob.
“Und Stück für Stück kommt das Lachen zurück. Und die Freude. Und der Hüftschwung. Und das Glück.“
Hilfe & Unterstützung:
Falls ihr selbst betroffen seid oder jemanden kennt, der Unterstützung braucht, wendet euch an den Verein Verwaiste Eltern e.V. Aachen. Er begleitet Eltern, die ihr Kind verloren haben – unabhängig vom Zeitpunkt des Verlustes. Mehr Infos unter: https://www.verwaiste-eltern-aachen.de