Jah­res­zei­ten

von Ulrike Purrer Guardado

Jah­res­zei­ten

von Ulrike Purrer Guardado

In den letz­ten Tagen habe ich von vie­len Freun­den wun­der­ba­re Herbst­bil­der erhal­ten und aus den Ber­gen sogar schon Fotos vom ers­ten Schnee. Das löst Hei­mat­ge­füh­le aus, ich erin­ne­re mich an den Raschel­wald mei­ner Kind­heit, wenn das Laub gefal­len war, und stel­le mir vor, wie es jetzt wie­der frü­her dun­kel und abends gemüt­lich in den Stu­ben wird.

Bei uns hier an der kolum­bia­ni­schen Pazi­fik­küs­te ist hin­ge­gen immer Som­mer. Zwar wech­seln sich Tro­cken- und Regen­zeit ab, aber die Tem­pe­ra­tu­ren sin­ken eigent­lich nie unter 25°C. Des­halb hat auch nie­mand ein Ther­mo­me­ter am Küchen­fens­ter, und der Wet­ter­be­richt ist voll­kom­men irrele­vant. Poten­zi­el­le Erd­be­ben oder Tsu­na­mis kün­di­gen sich ohne­hin nicht an, und das Kli­ma ist eben ver­läss­lich: immer warm und feucht.

So ist mir eigent­lich erst nach ein paar Jah­ren in den Tro­pen auf­ge­fal­len, wie viel in Deutsch­land über das Wet­ter gespro­chen wird. Nach­rich­ten von Freun­den und Ver­wand­ten sind meist mit einem kur­zen Kom­men­tar zu den Tages- und Nacht­tem­pe­ra­tu­ren, zu Son­nen­schein und Nie­der­schlag ver­bun­den – und der­zeit mit jenen wun­der­schö­nen Fotos gold­gel­ber Herbst­blät­ter.

Doch ich lebe eben­so gern in tro­pi­schen Gefil­den, wo man mit nack­ten Füßen und T‑Shirt eigent­lich immer rich­tig geklei­det ist und auch nachts nie friert, wo die Son­ne einem den Schweiß aus den Poren treibt, aber auch ganz viel posi­ti­ve Ener­gie ein­haucht. Wenn ich mich für eine ein­zi­ge Jah­res­zeit ent­schei­den müss­te, wür­de ich wahr­schein­lich den Som­mer neh­men, und den­noch möch­te ich all die erleb­ten und noch zu erle­ben­den Herbs­te, Win­ter und Früh­lin­ge nicht mis­sen.

Man­che eth­no­lo­gi­schen Argu­men­ta­tio­nen mes­sen der Win­ter­er­fah­rung sogar eine beson­de­re Bedeu­tung zu. Die­se lan­ge Käl­te habe die Men­schen einst gezwun­gen und nach­hal­tig gelehrt, Vor­rä­te anzu­le­gen und sich die Lebens­mit­tel ein­zu­tei­len, also mehr an die Zukunft zu den­ken als jene, die das gan­ze Jahr über ern­ten und es sich des­halb leis­ten kön­nen, auf län­ger­fris­ti­ge Pla­nung zu ver­zich­ten. Ob der kau­sa­le Zusam­men­hang so ein­fach ist, ver­mag ich nicht zu beur­tei­len. Es ent­ste­hen jeden­falls unter­schied­li­che Lebens­ge­füh­le, und ich bin auch für die­se bei­den von Her­zen dank­bar.

So füh­le ich mich in mei­nem all­som­mer­li­chen All­tag beschenkt durch jedes Bild eines gren­zen­lo­sen Wol­ken­him­mels, schnee­be­zu­cker­ten Fel­des oder nebel­ver­han­ge­nen Wal­dessaums. Es ist das Geschenk einer voll­kom­me­nen Schöp­fung!

Foto: Wal­de­mar Brandt on Uns­plash