Finsternis
von Matthias Fritz
Finsternis
von Matthias Fritz
„Tisch 102?“ Sind das wir? Ach ja, sie hat es uns eben an der Kasse gesagt. Wir sind Tisch 102. Wir gehen los…
„Hey! Ich bin Mahmut!“ Wir stellen uns vor. Mahmut sieht uns an. Oder auch nicht? Mahmut ist blind. Wir gehen heute „finster essen“!
Den ganzen Tag ist mir schon flau im Magen. Und auf der Zugfahrt haben wir schon gescherzt. Suppe sollten wir besser nicht nehmen. Sonst sehen wir nachher aus wie Schweine. Vorsorglich habe ich mir schon einmal einen schwarzen Pulli und eine dunkle Hose angezogen. Ein Freund, der diesen Plan nicht kennt, begrüßt mich mit den Worten „Du hast dich aber chic gemacht!“ Ich lächle verlegen. Wenn er wüsste…
Mahmut geht los. Führt uns aus dem Eingangsbereich des Restaurants weg. Die Schleuse ist eng. Als die Tür sich schließt verschwimmen die Gesichter der anderen aus meiner Gruppe. Und dann ist das Licht weg. Finster! So wie der Raum in dem wir jetzt landen.
Wie ist es zu essen, wenn man nicht sieht was kommt?
Wie ist es zu essen, wenn ich nicht sehe wie ich essen soll?
Wie ist es zu essen, wenn ich nicht sehe, wer noch mit mir im Raum ist?
Mahmut gibt uns den ersten Rat: Legt die Hände einander auf den Rücken. „Wir machen jetzt eine Polonäse!“ Wir können das Grinsen förmlich hören. Es geht ja auch nicht anders. Sehen können wir ihn nicht. Ist das schon die erste Veränderung? Ich höre Humor, Witz, Sarkasmus und kann ihn hier nicht sehen.
Von der Schleuse kommen wir in das richtige Restaurant. Und es ist unendlich laut. Menschen lachen, unterhalten sich, Besteck klappert auf Tellern. Und mein erster Gedanke ist: Ich will hier raus! Es ist zu laut! Viel zu laut! Aber unsere Polonäse setzt sich in Bewegung. Schnell versuche ich mir den Weg zu merken: es geht nach links. Ein kleiner Schritt, dann drei geradeaus, eine leichte Kurve nach rechts. Und plötzlich ist meine Vorderfrau weg. Mahmut hat sie auf ihren Stuhl gesetzt. Und er legt jetzt meine Hand auf eine Stuhllehne. Ohne Anweisung ziehe ich den Stuhl ran, setze mich (etwas zu flott) und lande doch auf dem Stuhl. Tischkante – wo ist die Tischkante? Da — Glück gehabt! Ich ertaste zwei Gabeln, zwei Messer, zwei Servietten (sehr hilfreich), einen Dessertlöffel. Das ist also mein Reich der Finsternis. Links neben mir spüre ich Wärme. Ein Kumpel sitzt also auch schon. Puh. Und Mahmut führt uns in den Abend ein.
Was folgt sind vier Gänge: eine Suppe, ein Salat, ein Hauptgang und das Dessert. Das Getränk kommt zum Glück nur in Flaschen. Und es bleibt die Lautstärke. Aber ich möchte nicht mehr flüchten.
Von unserer Gruppe fällt die Anspannung ab. Wir machen Jokes. Jokes über das Essen: Das musst Du sehen, das schmeckt genial. Haha.
Und es verändert sich etwas. Ich kann manche Dinge nur schwer erschmecken, Zutaten die auf meinem Teller liegen. Ich höre, wie unsere Freundin gegenüber den Kopf bewegt. Diese leise Bewegung kann man also auch hören. Nicht am Luftzug oder durch die Klamotten, nein durch ihr Reden.
„Habt ihr die Augen eigentlich auch noch offen?“ „Ja, ich trage sogar noch meine Brille!“ Wir lachen.
Irgendwann fragt Sie weiter: „Nehmt Ihr eigentlich auch die Finger zur Hilfe?“ Jetzt kann ich es auch zugeben. Die Zuckerschoten und die Gnocchi habe ich mir vorsichthalber mit den Fingern auf die Gabel geschoben. Das Messer liegt links vom Teller – unbenutzt. Der Blumenkohl war zu groß, aber schneiden war nicht drin im Dunklen. Ein Happs und weg, dachte ich mir. Und beim Nachtisch fühle ich mich wie ein Kind. Ohne, dass jemand zuschauen kann, kann ich hemmungslos meinen Finger nehmen und den Rest der Mousse und vom Eis vom Teller abwischen. Der Finger geht direkt in den Mund und ist ganz klebrig.
Irgendwann führt Mahmut uns dann wieder nach draußen. Die Augen brennen beim ersten Licht und alles ist sehr verschwommen. Der Blick auf die Uhr zeigt uns: wir waren gute drei Stunden in der Finsternis. Unser Zeitgefühl haben wir also auch verloren – nicht nur das Sehen! Krass!
An der Bar werden wir dann aufgeklärt: über unser Essen. Und wir haben nur einen Teil geschmeckt. Verrückt wie wir Sehen und Schmecken kombinieren. Eigentlich bekloppt, wie sehr mir die Ohren dröhnen, denn sie sind voll überlastet. Die Filter im Hirn brauchen gerade einiges an Anstrengung, um alles wieder in die „Norm“ zu führen.
Auf der Rückfahrt schwirren mir die Gedanken. Ich bin total dankbar, dass ich sehen darf und bewundere die, die anders durchs Leben gehen – ohne zu sehen eben. Aber irgendwie sieht man in der Finsternis anders. Ich habe die Präsenz von Menschen um mich herum gespürt. Ich habe Bewegungen gehört. Meine Zunge hat die Formen von Zutaten erspürt. Geschmack muss anders verstanden werden.
Cut.
Nächster Morgen: Ich schließe die Augen, halte die Tasse mit dem schwarzen Tee unter meine Nase und rieche, atme ein. Ich nippe an der Tasse. Und überlege: Ist das jetzt anders? Irgendwie nicht. Aber zumindest die Erinnerung an gestern Abend bleibt.