Eine von ihnen?

von Ulrike Purrer Guardado

Eine von ihnen?

von Ulrike Purrer Guardado

Bin ich eine von ihnen? Gute Fra­ge. Seit acht Jah­ren lebe ich im kolum­bia­ni­schen Tuma­co, ganz nah bei den Men­schen, in einer ein­fa­chen Holz­hüt­te. Wand an Wand höre ich jedes Gespräch, jedes Knar­zen oder Unwohl­sein von neben­an. Bei star­kem Regen leckt das Dach, und ich muss Schüs­seln und Eimer auf­stel­len, so wie sie. Und wenn es eine Zeit­lang nicht gereg­net hat, müs­sen wir alle unser Was­ser in Eimern her­bei­schlep­pen. In den ers­ten Jah­ren, als es nachts oft Schie­ße­rei­en gab, frag­te mich die Nach­ba­rin immer durch die Holz­wand, ob bei mir alles in Ord­nung sei, und wenn jemand ver­starb, wach­te ich mit allen ande­ren am Sarg die Nacht hin­durch. Und doch – dach­te ich ganz oft – bin ich kei­ne von ihnen. Ich habe einen deut­schen Pass, kann jeder­zeit in den Flie­ger stei­gen und Tuma­co ver­las­sen. Zwar gehe ich nur alle 2 – 3 Jah­re in den sog. Hei­mat­ur­laub und bin sonst immer hier, egal was pas­siert, und den­noch: Es ist mei­ne Ent­schei­dung, für eini­ge Jah­re hier zu woh­nen und zu arbei­ten. Vie­le mei­ner Nach­barn wür­den sicher nicht hier leben, wenn sie eine rea­lis­ti­sche Alter­na­ti­ve hät­ten.

Doch dann kam der Coro­na­vi­rus, und in ganz Kolum­bi­en begann die Aus­gangs­sper­re. Unse­re Bür­ger­meis­te­rin wand­te sich mit einem ein­drück­li­chen Video und dem Appell an die Bevöl­ke­rung, bit­te zu Hau­se zu blei­ben. Wir müss­ten jetzt wirk­lich alle an einem Strang zie­hen. Sie habe ihrer­seits bereits 500 neue Grab­stel­len orga­ni­siert, denn ein Beatmungs­ge­rät für den Ernst­fall gäbe es in Tuma­co und der gesam­ten Regi­on nicht. Gleich­zei­tig infor­mier­te die deut­sche Bot­schaft (mit einer sicher not­wen­di­gen und gut­ge­mein­ten Pene­tranz) über die letz­ten Flü­ge Rich­tung Deutsch­land, und so sicher ich zwar war, dass ich auch in die­sen beson­de­ren Zei­ten am bes­ten hier in Tuma­co und in mei­nen eige­nen vier Holz­wän­den auf­ge­ho­ben war, so anders fühl­te es sich doch auch an. Wenn die­ser letz­te Flie­ger nach Frank­furt weg war, dann gab es tat­säch­lich erst ein­mal kein „Zurück“ mehr. Ich muss­te an die Mis­sio­na­re aus den 60er Jah­ren den­ken, die per Schiff in die­se Regi­on gekom­men waren, ohne Aus­sicht auf regel­mä­ßi­ge Hei­mat­ur­lau­be. Einer von ihnen lebt noch immer hier, und fast 90-jäh­rig ist er mir regel­mä­ßig inspi­rie­ren­der Gesprächs­part­ner – in die­sen Coro­na-Tagen mehr denn je. Ja, Tuma­co fühlt sich anders an, wenn ich mir bewusst­ma­che, dass ich nicht mehr jeder­zeit „weg“ kom­me und mir auch der deut­sche Pass im Ernst­fall kein Beatmungs­ge­rät garan­tiert.

Und den­noch bin ich natür­lich pri­vi­le­giert, durf­te die Ent­schei­dung für oder gegen das Blei­ben selbst tref­fen und kann mich auf einen gesi­cher­ten Unter­halt zum Monats­en­de ver­las­sen, wäh­rend etli­che mei­ner Nach­barn die Sor­ge ums Über­le­ben plagt. Ob ich eine von ihnen bin, das weiß ich trotz­dem noch immer nicht, aber der letz­te Flie­ger ist weg, soviel steht fest.

Foto: Ricar­do Resen­de/Uns­plash