Dra­chen und Ein­hör­ner

von Mareile Mevihsen

Dra­chen und Ein­hör­ner

von Mareile Mevihsen

Eine Schnee­flo­cke lässt sich bis ins kleins­te Mole­kül ana­ly­sie­ren und auf­schlüs­seln. Unse­re Welt besteht aus For­meln. Aber wie fühlt es sich an, inmit­ten eines Schnee­flo­cken-Getüm­mels zu ste­hen und zu sehen, wie die Welt sich ver­zau­bert?

Men­schen sind bere­chen­bar. Jedes Com­pu­ter­sys­tem kann mich ana­ly­sie­ren. Mög­li­cher­wei­se weiß es mehr über mich als enge Freun­de. Der Algo­rith­mus lügt nicht. Mit einer Tref­fer­quo­te von über 90% lässt sich mög­li­cher­wei­se bei einem Ein­zel­nen ein bestimm­tes Ver­hal­ten vor­her­sa­gen. Und doch pas­siert es, dass wir uns unbe­re­chen­bar ver­hal­ten. Der Fak­tor Mensch.

Wir wis­sen, dass es weder Ein­hör­ner noch Dra­chen gibt auf unse­rer Erde. Und behaup­ten das mit der Deka­denz des auf­ge­klär­ten Men­schen. Und flie­gen mit Flug­ob­jek­ten durch die Wei­ten des Uni­ver­sums, obwohl man uns gesagt hat, wir wür­den nie flie­gen kön­nen.
Ver­liebt sein ist ein bio­che­mi­scher Vor­gang. Wir kön­nen Schmet­ter­lin­ge im Bauch, sen­so­ri­sche Wahr­neh­mun­gen, kör­per­li­che Anzie­hung ganz ein­fach mit Hor­mo­nen erklä­ren. Aber es gibt kei­nen Quell­code für Gebor­gen­heit.

Wir wis­sen um jede win­zi­ge Klei­nig­keit, wie ein Kind ent­steht und im Mut­ter­leib wächst. Aber wie aus einem Gedan­ken, ein Wunsch, ein Seh­nen, ein Mensch wird, lässt sich nur Wun­der nen­nen.

Wir wis­sen was mit unse­rem Kör­per pas­siert, wenn wir ster­ben. Wir kön­nen sehen, wie ihn alles Beseel­te ver­lässt. Und spü­ren doch, dass da etwas bleibt.

Man kann uns bis ins kleins­te Detail dar­le­gen, dass es kei­nen Gott geben kann, und uns doch nicht den Glau­ben neh­men.

Man kann dir erzäh­len, dass dei­ne Sehn­sucht, dein Drang nach dem Mehr, dein Wün­schen, dein War­ten, dei­ne Suche aus­sichts­los ist. Man kann dir sagen, dass man sich nicht sehnt heut­zu­ta­ge, dass man sich zufrie­den geben muss mit dem, was ist und was man hat. Dass es weder Ein­hör­ner noch Dra­chen gibt am ande­ren Ende der Welt, dass du nie­mals flie­gen wirst, weil Men­schen dazu nicht gemacht sind und es unmög­lich ist. Dass mit dir etwas nicht stimmt. Man kann dich klein hal­ten, dir alles auf­schlüs­seln, man kann dich aus­la­chen und dir die Hoff­nung neh­men. Aber nie­mals die Sehn­sucht.

Mach dich auf den Weg. Nimm dei­ne Sehn­sucht und wag es, ihr zu trau­en. An nichts wird es dir man­geln. Grü­ne Auen, erqui­cken­de Was­ser, fürch­te kein Unheil [Vgl.Psalm 23]. Das was du sehnst, du kennst es schon. Es ist längst da. Du musst dich nur trau­en.

Nach­trag:
Ich been­de­te den Text, schenk­te mir ein Glas Wein ein und sah aus dem Fens­ter in die Dun­kel­heit. Es hat­te begon­nen zu schnei­en. Das ers­te Mal in die­sem Win­ter, tage­lang ange­kün­digt und doch nie gesche­hen. Nur weni­ge Minu­ten spä­ter waren wir drau­ßen, mit­ten in der Magie der Schnee­flo­cken, die die Nacht ver­zau­ber­ten.

Wir sahen uns an. Und nah­men unse­re Sehn­sucht und wuss­ten: Alles ist wahr.

Foto: R. M./Uns­plash