Blü­hen­de Überlebenskünstler:innen

von Nils Gerets

Blü­hen­de Überlebenskünstler:innen

von Nils Gerets

Die Woche in den Ber­gen hat mir gut getan. End­lich die ersehn­te Aus­zeit – ein­fach mal raus. Raus aus dem Stress, der Arbeits­be­las­tung, den unge­lös­ten Fra­gen, den All­tags­kon­flik­ten… Hin­ein in die Natur: Durch­at­men – Auf­at­men.

Beim Wan­dern in den Ber­gen sehe ich lau­ter Überlebenskünstler:innen. Pflan­zen, die sich auf kar­gem Gestein behaup­ten. Sie blü­hen in Rit­zen, zwi­schen locke­rem Gestein, ja selbst auf har­tem Fel­sen ohne erkenn­ba­res Erd­reich und ohne Grund zum Wur­zeln. Sie trot­zen Was­ser, Regen, Eis, Käl­te, Stein­schlag, Tro­cken­heit… Selbst im unweg­sams­ten Gelän­de kann es pas­sie­ren, dass einem solch klei­ne Überlebenskünstler:innen begeg­nen. Selbst da noch, wo wir kei­ner­lei Leben mehr ver­mu­ten oder erwar­ten und unse­re begrenz­te, mensch­li­che Vor­stel­lungs­kraft ein­fach nicht aus­reicht, um dort dem Leben noch ein Über­le­ben zuzu­trau­en. Wie schaf­fen die Pflan­zen das? Was ist ihre Über­le­bens­stra­te­gie? Kann ich von die­sen blü­hen­den Überlebenskünstler:innen ler­nen?

Zwei Aspek­te schei­nen beim Über­le­ben beson­ders wich­tig zu sein, die mir bei mei­ner Aus­zeit bewusst gewor­den sind: Wider­stand und Anpas­sung. Zwei para­do­xe Begrif­fe, die sich zunächst zu wider­spre­chen schei­nen. Bei den Pflan­zen im Gebir­ge heißt das: Wider­stand gegen die raue Umge­bung, gegen die Aus­sichts­lo­sig­keit, gegen das Wahr­schein­li­che, gegen das „Nor­ma­le“ sowie Anpas­sung an her­aus­for­dern­de Situa­tio­nen, an extre­me Wet­ter­be­din­gun­gen, an die natür­li­che Umge­bung… Die blü­hen­den Pflan­zen im Gebir­ge haben mir vor Augen geführt, dass das Über­le­ben etwas mit Wider­stand UND Anpas­sung zu tun hat. Nur mit dem Kopf durch die Wand, das funk­tio­niert nicht gut, Anpas­sung bis zur Unkennt­lich­keit, funk­tio­niert eben­so wenig. Nicht Wider­stand statt Anpas­sung, nicht Anpas­sung statt Wider­stand, son­dern Anpas­sung UND Wider­stand.

Am nächs­ten Wochen­en­de wird bei der Bun­des­tags­wahl über die poli­ti­sche Aus­rich­tung der zukünf­ti­gen Entscheidungsträger:innen in Deutsch­land ent­schie­den. Auch hier schei­nen mir die bei­den Begrif­fe von Rele­vanz. Wider­stand gegen eine Poli­tik der Unmensch­lich­keit, des Popu­lis­mus, der Frem­den­feind­lich­keit, der Aus­beu­tung und der Unge­rech­tig­keit, aber auch Anpas­sung an die Coro­na-Situa­ti­on, die sich ver­schie­ben­den Alters­struk­tu­ren unse­rer Gesell­schaft, die Fra­gen zu welt­wei­ter Mobi­li­tät und Glo­ba­li­sie­rung, die Inklu­si­on und den Umgang mit Geflüch­te­ten, die Digi­ta­li­sie­rung von Wirt­schaft, die ver­än­der­te Arbeits­welt und die dra­ma­ti­sche Kli­ma­si­tua­ti­on unse­rer Erde. Wo The­men zum Nach­teil ande­rer The­men ver­nach­läs­sigt oder viel­leicht sogar ein­zel­ne The­men gegen­ein­an­der aus­ge­spielt wer­den, da wird dau­er­haft das fried­li­che Zusam­men­le­ben und Über­le­ben unse­rer Gesell­schaft gefähr­det.

Wider­stand und Anpas­sung – gelingt es bei­des mit­ein­an­der zu ver­bin­den, dann kann (Über-)Leben gelin­gen, selbst da, wo es uns Men­schen aus­sichts­los scheint. Die far­ben­präch­ti­gen Überlebenskünstler:innen in den Ber­gen leben uns die­se Lebens­stra­te­gie vor und ihre Blü­ten sind ein­drucks­vol­le State­ments für das Leben. Wer schon ein­mal solch blü­hen­de Blu­men im stei­ni­gen Hoch­ge­bir­ge gese­hen hat, der bekommt eine Ahnung von der unbän­di­gen Lebens­kraft, die Gott in die Schöp­fung hin­ein­ge­legt hat. Viel­leicht machen uns die Überlebenskünstler:innen aus den Ber­gen Mut, uns unse­ren Her­aus­for­de­run­gen im Leben zu stel­len – mit Wider­stand UND Anpas­sung!

Gott,
mache uns zu blü­hen­den Überlebenskünstler:innen!
Amen.

Foto: Melina Kie­fer/Uns­plash