Aufschnitt mit Gesicht
von Ulrike Purrer Guardado
Aufschnitt mit Gesicht
von Ulrike Purrer Guardado
Es war der 3. Juli 1989. Wenige Wochen später sollte die Berliner Mauer fallen, doch zu jenem Zeitpunkt war dieses historische Ereignis überhaupt noch nicht abzusehen. So verließen wir die DDR unter dem Paragraphen der Familienzusammenführung, mit allen Ausreiseschikanen und einer letzten verunsichernden Durchsuchung unserer Habseligkeiten am Grenzübergang Lübeck. Ich war damals 12 Jahre alt und konnte die politische Dimension dieser Ab- und Ausreise noch längst nicht ermessen, aber irgendwie spürte ich, dass wir da etwas „Verbotenes“ taten und unsere Freunde und Verwandten nie wiedersehen würden. Doch das Vertrauen in die Entscheidungen meiner Mutter war stärker, und so hielt ich mich an dem kleinen Bastkörbchen fest, in dem unser Meerschweinchen reiste, und vertraute darauf, dass diese Fahrt trotz allem richtig war.
Endlich „drüben“ angekommen, erinnere ich mich an einen ersten Besuch im Supermarkt. Direkt hinter dem Eingang kamen wir vorbei an einem unendlich langen und unendlich hohen Regal voller Waschpulver, das in mir direkt die Frage aufwarf, warum es wohl so viele verschiedene Produkte für einen einzigen Zweck gab? In der DDR wuschen alle mit Spee und waren doch auch immer sauber gekleidet. Im nächsten Gang, bei den Hygieneartikeln, hingen hellblaue Waschlappen mit der Aufschrift „Für ihn“ und rosafarbene „Für sie“. Verrückt. Doch dann erreichten wir die Fleischtheke, und inmitten eines riesigen Angebots starrten mich die Augen einer extra für Kinder gestalteten Fleischwurst an. Das war tatsächlich ein Aufschnitt mit Gesicht! Irre, und ich musste nicht lange überlegen. Nein, ich wollte diese Wurst nicht probieren. Ich fand es absurd und irgendwie überflüssig, eine Wurst mit Gesicht. In diesem Land schien es eine Menge Dinge zu geben, die der Mensch nicht braucht.
Ja, und das ist wohl bis heute so und stellt mich immer wieder vor die Frage, was für ein würdiges, erfülltes Leben eigentlich wirklich nötig ist. In diesen Momenten sehe ich dann vor meinem inneren Auge das 12-jährige Mädchen mit den zwei langen Zöpfen vor seiner ersten westdeutschen Fleischtheke stehen und sich wundern.
Foto: Scott Webb/Unsplash