Apo­ka­lyp­se – und dann?

von Gastbeitrag

Apo­ka­lyp­se – und dann?

von Gastbeitrag

Was für eine Nacht!

Es sind kei­ne quä­len­den Alb­träu­me, die mich haben auf­schre­cken las­sen. Auch das zwar vol­le, aber mach­ba­re Pro­gramm des anste­hen­den Tages allein kann es nicht sein, das mich gegen mei­ne Gewohn­heit gleich mehr­mals letz­te Nacht wach wer­den lässt. Und auch der um die Dächer pfei­fen­de Spät­herbst-Sturm­wind ist zwar gut hör­bar, hat mich aber nicht (bewusst) geweckt. Muss also eine Mischung aus allem Mög­li­chen zusam­men …

Wie­der ein­schla­fen geht nicht; wach lie­gen blei­ben auch nicht. Ich ste­he auf, geis­te­re durch die dunk­le Woh­nung und stel­le das Radio an. Im Nacht­pro­gramm läuft die Apo­ka­lyp­se an: „Also sprach von Zara­thus­tra“ von Richard Strauss. Der Ein­stieg welt­be­rühmt durch die Film­mu­sik von Kubricks „Odys­see im Welt­raum“. Geschockt und fas­zi­niert zugleich las­se ich das monu­men­ta­le Auf- oder Unter­gangs­sze­na­rio an mir vorbei‑, nein, auf mich ein­rau­schen. Inhalt­lich greift Strauss auf Nietz­sche zurück. Und lässt damit des­sen im Zara­thus­tra vor­ge­stell­ten Über­men­schen erschei­nen – ohne den der Her­ren­mensch des Natio­nal­so­zia­lis­mus und die Apo­ka­lyp­se des Zwei­ten Welt­kriegs nicht denk­bar waren.

Ver­wirrt, aber ent­schlos­sen, die Nacht nicht kom­plett „durch­zu­ma­chen“, lege ich mich wie­der hin.

Nach einer kur­zen Schlaf­pha­se wache ich erneut auf – und gehe noch mal zum Radio. Wie­der ein welt­be­rühm­tes Stück und wie­der Strauß, aber dies­mal Johann juni­or: „An der schö­nen blau­en Donau“ – die Unbe­schwert­heit schlecht­hin, in Töne und Tanz­schrit­te gefasst. Gerä­dert wie ich bin, kann ich ob der Iro­nie des musi­ka­li­schen Kon­trast­pro­gramms nur (sehr) müde lächeln. War nicht die wal­zer­se­li­ge Donau­mon­ar­chie Öster­reich-Ungarn in Wahr­heit ein Tanz auf dem Impe­ria­lis­mus-Vul­kan, der für Öster­reich wie für Deutsch­land mit dem Ers­ten Welt­krieg in die Luft flog? Ich ver­su­che wie­der, im Bett zur Ruhe zu kom­men.

Nach der nächs­ten Kurz­schlaf­pha­se ist es zwar noch dun­kel, aber schon frü­her Mor­gen. Und wie­der ver­las­se ich das Bett. Die ers­ten Früh­schicht-Men­schen sind drau­ßen auf dem Weg zur Arbeit. Und dies­mal kommt mir ohne Radio eine Musik-Asso­zia­ti­on.

Zehn Tage ist es her, dass wir mit mei­nem Chor ein Kon­zert hat­ten. Das ers­te nach zwan­zig Mona­ten Zwangs­pau­se. Und gleich­zei­tig ver­mut­lich wie­der das letz­te für län­ge­re Zeit dank vier­ter Wel­le, die apo­ka­lyp­ti­scher zu wer­den droht als alles bis­her Erleb­te.

Aber dies­mal ist es ein posi­ti­ves Gefühl, das mir trotz Über­näch­ti­gung Kraft für den Tag gibt. Im Modus 2G+ stan­den drei Bach­kan­ta­ten auf dem Kon­zert­pro­gramm, die pas­sen­der für die Zeit zwi­schen Novem­ber und Dezem­ber, zwi­schen Pan­de­mie­pa­nik, Nüch­tern­heits­not­wen­dig­keit und Zuver­sicht nicht sein könn­ten: „Herr Jesu Christ, wahr‘ Mensch und Gott“, „Wer weiß, wie nahe mir mein Ende“ und „Wachet auf, ruft uns die Stim­me“.

Was für ein Weck­ruf in den Tag!

Foto: Paul Green /Uns­plash