Abwar­ten – und Tee­kes­sel­chen lösen

von Gastbeitrag

Abwar­ten – und Tee­kes­sel­chen lösen

von Gastbeitrag

Von mei­nem Schreib­tisch schaue ich auf die­ses Bild.

Eigent­lich ist es nichts zum Auf­hän­gen son­dern zum Anzie­hen: ein Chi­ten­je, so hei­ßen bedruck­te Stof­fe in Mala­wi. Es erin­nert mich an mei­nen Besuch bei einem Stu­di­en­freund dort (zu Zei­ten der Rei­se­frei­heit), wo ich es auf dem Stoff­markt von Lilongwe gekauft habe.
Es erin­nert mich auch an den gro­ßen Elek­trokes­sel in mei­nem Stu­di­en­jahr in Nai­ro­bi, mit dem wir in der Gemein­schafts­kü­che in Sekun­den­schnel­le kochen­des Was­ser hat­ten. Das war nicht nur gut für Tee­pau­sen son­dern auch die effek­tivs­te Waf­fe gegen den abend­li­chen Kaker­la­ken­ein­fall auf der Arbeits­plat­te. Und es erin­nert mich an die in West­afri­ka all­ge­gen­wär­ti­gen bun­ten Plas­tik­kes­sel mit glei­cher Form, von denen ich, als ich sie zum ers­ten Mal sah, dach­te: Wie unprak­tisch, die schmil­zen doch beim Erhit­zen. Bis ich über mich sel­ber lachen muss­te, als ich auf­ge­klärt wur­de, dass es (Kalt-)Wasserkannen sind, die vor allem Mus­li­me als mobi­le Wasch­sta­ti­on vor dem Gebet benut­zen.

Natür­lich erin­nert mich das Motiv auch dar­an, bei­zei­ten Pau­se zu machen. Wenn trotz noch so inter­es­san­ter The­men und Ter­mi­ne mein Akku leer wird. Wenn mir im Home office oder im men­schen­lee­ren Büro­flur die Decke auf den Kopf fällt. Oder wenn mich in der men­schen­lee­ren Innen­stadt Beklem­mung beschleicht. Abwar­ten und Tee trin­ken – ein gut gemein­ter Rat, wenn ande­re Akti­vi­tä­ten nicht gehen. Also ein gutes Coro­na-Mot­to für mich? Nicht, wenn uns in Kon­takt­sper­ren Untä­tig­keit und Lethar­gie als Blo­cka­de über­kom­men, die, wenn es ganz schlecht läuft, depres­siv machen kön­nen.
Was ich mei­ne und mag, sind krea­ti­ve Pau­sen. Unter­bre­chun­gen zum Abschal­ten und Durch­schnau­fen — ob indoor oder out­door, ob mit oder ohne Heiß­ge­tränk, ob in Stil­le, bei Musik, wäh­rend eines Gesprächs mit dem Nach­barn, der Part­ne­rin, der Bäcke­rei­ver­käu­fe­rin, dem Kol­le­gen. Egal ob live, tele­fo­nisch oder per Video. Ein Aha­er­leb­nis und wohl­tu­end zugleich war für mich im Früh­jahrs-Lock­down der ers­te Pau­sen­kaf­fee mit einem Kol­le­gen per Video­tool – allen äuße­ren Umstän­den zum Trotz.

Und dann erin­nert mich mein Chi­ten­je an „Tee­kes­sel­chen“, das ich als Kind so gern gespielt habe. Beson­ders span­nend: Wör­ter mit mehr als zwei Bedeu­tun­gen. Im Moment habe ich den Ein­druck, dass es vie­le neue Tee­kes­sel­chen gibt. Alte Wör­ter, die neue und vie­le Bedeu­tun­gen bekom­men, die sie vor­her nicht hat­ten. Wör­ter wie Indi­vi­du­um, Gemein­schaft, Frei­heit, Soli­da­ri­tät, Demo­kra­tie. Coro­na­leug­ne­rin­nen, Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­ker, mili­tan­te Impf­geg­ne­rin­nen oder Capi­tol­stür­mer wei­ten, so mein Ein­druck, Begrif­fe nicht nur aus. Sie ver­keh­ren auch man­che ins Gegen­teil. Wenn Tole­ranz spä­tes­tens an der eige­nen Haus­tür endet, wenn Mei­nungs­frei­heit Hass­kam­pa­gnen bedeu­tet, wenn Streit­kul­tur in Gewalt­tä­tig­keit mün­det. Da erin­nert mich vie­les an einen Auf­ruhr in Ephe­sus, von dem die Bibel berich­tet: „Dort schrien die einen dies, die andern das; denn in der Ver­samm­lung herrsch­te ein gro­ßes Durch­ein­an­der und die meis­ten wuss­ten gar nicht, wes­halb man über­haupt zusam­men­ge­kom­men war.“
Ich fra­ge mich: Was kann, was muss ich tun, um in die­ser (Sprach-)Verwirrung zur (Auf-)Klärung bei­zu­tra­gen und unzu­läs­si­gen Ver­all­ge­mei­ne­run­gen ent­ge­gen­zu­wir­ken?

Mit Blick auf mein Kes­sel­bild neh­me ich mir für den zwei­ten Lock­down vor:
 — Trotz Home office bewuss­te Pau­sen machen, um in die­sen spe­zi­el­len Zei­ten zu Kräf­ten zu kom­men und bei Kräf­ten zu blei­ben.
 — Trotz unkla­rer Pro­gno­sen kla­re Vor­stel­lun­gen von dem ent­wi­ckeln, wofür ich ste­he und mich gera­de jetzt ein­set­zen will, um bei Ver­stand zu blei­ben oder zu Ver­stand zu kom­men.
 — Trotz Kon­takt­sper­ren Orte und Zei­ten für Aus­tausch mit ande­ren schaf­fen, um so auf die Spur des­sen zu kom­men, was Jesus mit „Leben in Fül­le für alle“ meint.

Foto: Man­ki Kim/Uns­plash