Zeitreise
von Mareile Mevihsen
Zeitreise
von Mareile Mevihsen
Als ich heute beim Bäcker war, bin ich in die Vergangenheit gereist. Nichts ahnend zahlte ich meine Teilchen, da stand eine zierliche ältere Dame neben mir, die eine Tüte vergessen hatte. Ich grüßte, sie ebenfalls. Wiedererkennen bei mir, ich grüße nochmal. Jetzt schaltet sie auch. Wir strahlen uns an.
Es ist über zehn Jahre her, ich ging noch zur Schule, da hatte ich beschlossen, im Geschichte-LK ein Referat über die Pfadfinder in Kriegszeiten zu halten (irgendwie so ähnlich zumindest). In meinem Pfadfinderstamm überwies man mich an Josef, 89 Jahre, der seinerzeit unseren Stamm mitgegründet hatte. Ich würde gerne sagen, dass das der Beginn einer langen Freundschaft war, aber das Leben gab dem nur kurze Dauer. Ein Freund war er trotzdem. Josef erzählte: Von seiner Jugend und den Pfadfindern, von seiner großen Liebe Maria, die leider zu diesem Zeitpunkt schon Jahre tot war, die er aber immer noch schmerzlich vermisste. Von den Gräueln des Krieges, langjähriger Gefangenschaft. Von einem Sohn, dem er fremd war, als er endlich heimkehren durfte. Von Enkeln und Urenkeln. Und von seinem unerschütterlichen Glauben an Gott und Jesus Christus. Auch ich durfte erzählen. Von meinem Leben, meiner ersten großen Liebe, meinen Träumen, Berufswünschen, meinem Glauben. Als ob uns die mehr als 70 Jahre kaum trennten. Verwandte Seelen waren wir, in unserem Pfadfindersein und dem Tun für eine bessere Welt, getragen von einer Hoffnung, die mich damals noch antrieb, mein tiefer Glaube, noch ohne Fehl und Zweifel.
Seinen 90. Geburtstag haben wir noch gefeiert. Monate später starb er. Ich trauerte um einen Großvater, den ich nie hatte. Was blieb, war ein Gedichtband, den er geschrieben hat. Ein paar Jahre bekamen sein Sohn und dessen Frau noch eine Weihnachtskarte von mir und ich von ihnen. Sie waren mir immer mit soviel ehrlichem Interesse und Warmherzigkeit begegnet. Eines Tages standen sie vor der Tür, ein selbstgemaltes Bild auf Leinwand von Josef im Gepäck, als Erinnerung für mich.
Das Leben trieb mich schließlich fort aus der Heimat. Vieles aus dieser Zeit meines Lebens wollte ich vergessen. Aber das Bild steht bis heute in meinem Wohnzimmer.
Zurück zum Bäcker. Die liebenswerte Dame ist Josefs Schwiegertochter. In zwei Minuten tauschen wir 10 Lebensjahre aus. Schnell noch die Telefonnummer auf einen Zettel gekritzelt “wir haben vor kurzem noch einen deiner Briefe gefunden!”, sprach’s und war verschwunden, die Zeit drängte. Auf mich prasseln die Erinnerungen ein. Zuhause kostet es mich drei Handgriffe und ich halte den Gedichtband in den Händen. Einer meiner kostbarsten Schätze.
Als ich durchblättere fluche ich. Kein Buch, keine Tasche, in der nicht irgendwann ein kleiner Zettel herausflattert von meiner ersten großen Liebe. Ich dachte, so langsam hätte ich alle gefunden. Ich atme tief durch. Konzentriere mich auf das Gute. Das Schöne. Nicht das Verlorene.
Man kann keine Lebensjahre ausradieren; also kann man vielleicht schon. Aber dann riskiert man auch all das Schöne und Gute und Helle zu verlieren, das immer da war. Und das Wissen darum lässt mich strahlen, an diesem trüben Freitag. Manchmal braucht man einen Schubser, eine Fügung oder vielleicht sogar einen göttlichen Fingerzeig. Danke Josef- you made my day.