Mein Gott darf kein Diri­gent sein

von Matthias Fritz

Mein Gott darf kein Diri­gent sein

von Matthias Fritz

Wie sehr habe ich mich auf die­ses Kon­zert gefreut: Beet­ho­vens Drit­te – Phil­har­mo­nie Essen – ein tol­les Orches­ter und ein mir unbe­kann­ter Diri­gent… Dies­mal konn­te ich von der Sei­te auf den Diri­gen­ten schau­en und etwas ver­wun­der­te mich. Kein Stock! Ne, das hat­te ich schon ein­mal gese­hen… Kein Frack! Auch das war schon gewe­sen…

Dann mach­te es Klick! Der geht ganz anders mit dem Orches­ter um! Ich habe Diri­gen­ten gese­hen, die wären fast vom Pult gefal­len. Ande­re wären dem Orches­ter ger­ne ins Gesicht gesprun­gen und wei­te­re ver­lie­ren sich in der Musik und schei­nen mit dem Takt­stock nur so hin und her zu wedeln. Die­ser war anders. Nur mit sei­ner Hand ver­such­te er das Orches­ter zu sich hin zu zie­hen und wenn es ihm zu viel war, dann drück­te er es lie­be­voll zurück. Dann tanz­te er mit ihnen, mit der Musik und ließ sei­ne Hand in der Melo­die schwim­men, segeln, rau­schen… Unglaub­lich! Das hat­te eine unglaub­li­che Leich­tig­keit für mich!

Und plötz­lich schlich sich ein Bild bei mir ein. Wenn ich ganz allei­ne in mei­nem Auto auf der Auto­bahn unter­wegs bin und eine CD mit Klas­sik läuft, dann bleibt die lin­ke Hand oft am Steu­er und im Rausch der Fahrt und der Musik fan­ge ich an zu diri­gie­ren. Gebe der Luft Ein­sät­ze, der Leit­plan­ke ein Zei­chen und stel­le mir Gei­gen vor, die ich höre und die sich am Rand der Auto­bahn auf mei­ne Takt­zei­chen ver­las­sen. Das hat etwas Berau­schen­des und ich wür­de lie­bend ger­ne ein­mal ein Orches­ter diri­gie­ren. Da ich aber null Ahnung von Musik habe, wür­de dies wahr­schein­lich in einer musi­ka­li­schen Kata­stro­phe enden…

Und dann tauch­te eine Fra­ge auf, eine Idee. Und was ist mit Gott? Ist er der Diri­gent von all dem hier um mich her­um? Piekst er mich schon mal mit sei­nem Takt­stock und will mich kor­ri­gie­ren oder könn­te er auch schon mal von sei­nem Pult run­ter­sprin­gen und so in die Musik ein­tau­chen?

Nein, mein Gott darf kein Diri­gent sein. Sonst könn­te er mich ja jeder­zeit mani­pu­lie­ren und mich dahin trei­ben mit mei­ner Musik, wo ich viel­leicht sel­ber nicht hin möch­te. Mein Gott ist aber auch kei­ne ers­te Gei­ge oder ein ande­rer Mit­spie­ler im Orches­ter. In die­sem Kon­zert saß mein Gott neben mir. Denn auch der schaut, hört, genießt das Kon­zert. Er hat uns allen das Talent zu einem Instru­ment gege­ben und das Gemüt es mit­ein­an­der ver­su­chen zu kön­nen – schließ­lich sol­len wir ja auch ein Orches­ter sein, selbst wenn manch­mal einer sei­ne Solo­par­tie sucht. Mein Gott lei­det aber auch an der Musik. Dann wenn der Trau­er­marsch in mei­nem Leben oder in der Drit­ten von Beet­ho­ven beginnt oder hat Pipi in den Augen, wenn die Musi­ker die­ser Welt alles geben was sie kön­nen.

Nein, mein Gott darf kein Diri­gent sein. Aber wenn er ein­mal ein­steigt in die­ses Kon­zert, das wir ver­an­stal­ten — dann hof­fe ich, dass er eines Tages die­ses Kon­zert ein­mal been­den wird. Dann wenn wir nicht mehr wei­ter­kom­po­nie­ren und wei­ter­spie­len kön­nen, dann ist er an der Rei­he. Bis dahin dür­fen wir mit­ein­an­der die Frei­heit des Spiels erle­ben.

Foto: ari­an­ta: Sir Simon Ratt­le con­duc­ting Lucia­no Berio‘s Coro @ Lucer­ne Fes­ti­val 2014 (CC BY-NC 2.0)