Mit­ten­drin statt nur dabei

von Matthias Fritz

Mit­ten­drin statt nur dabei

von Matthias Fritz

Völ­lig kaputt und müde ste­he ich am Bahn­steig des Würz­bur­ger Haupt­bahn­ho­fes. Der Zug ist pünkt­lich. Der ICE von Wien nach Ham­burg soll mich zumin­dest bis Frank­furt brin­gen.

Wütend stei­ge ich in den erst­bes­ten Wag­gon ein, da alle Anzei­gen außen am Zug aus­ge­fal­len sind und mein ers­ter Blick in den Zug ver­rät mir, dass auch die Anzei­gen für die Platz­re­ser­vie­run­gen nicht funk­tio­nie­ren. Vor mei­nem inne­ren Auge geht der Film los: Aus­ein­an­der­set­zung mit einer frem­den Per­son auf mei­nem Platz; ein Schaff­ner muss ver­mit­teln; Auf­re­gung, die ich nach drei Tagen Kon­fe­renz nicht gebrau­chen kann.

Im zwei­ten Wag­gon, den ich durch­que­re, resi­gnie­re ich und set­ze mich in einen frei­en Zwei­er. Ein kur­zer Blick in den Zwei­er hin­ter mit lässt mich wun­dern. War­um liegt da ein Jun­ge unter einer Fleece­de­cke? Aber ich set­ze mich ein­fach hin.

Nach eini­ger Zeit bemer­ke ich einen Unter­schied. Es ist ziem­lich lei­se in die­sem Zug. Kei­ne Han­dys klin­geln, kei­ne Note­book-Tas­ta­tu­ren wer­den wie wild gehäm­mert, ich höre kei­ne Ver­hand­lun­gen über sechs­stel­li­ge Geld­sum­men von Ban­kern auf dem Weg nach Frank­furt. Es wird ledig­lich Ara­bisch gespro­chen. Und ich rie­che es: Schweiß, Dreck – die Luft steht im Zug.

Ganz lang­sam beginnt mein müdes Gehirn zu arbei­ten. Du bist hier allein – mit­ten unter Flücht­lin­gen. Beim Auf­ste­hen schaue ich mich links und rechts im Zug um. Hier sit­zen nur ara­bisch aus­se­hen­de Män­ner und Frau­en. Der klei­ne Jun­ge hin­ter mir ist mitt­ler­wei­le auf­ge­wacht. Er steht beim Zwei­er­sitz einer Frau, die ein Bün­del auf dem Arm hat. Auch sie unter­hal­ten sich auf ara­bisch. Und dann wird er aktiv. Er schwingt sich zwi­schen den Sitz­rei­hen den Wag­gon ent­lang. Flitzt hin und her und ent­deckt die ande­ren Sitz­rei­hen.

Der klei­ne Jun­ge, viel­leicht 8 oder 9 Jah­re alt, hat gro­ße dunk­le Augen. Die Füße ste­hen hin­ter aus den schwar­zen Turn­schu­hen raus und sind mit Pflas­tern ver­klebt. Der blaue Pul­li ist dre­ckig und das Haar zer­wu­selt.

Wäh­rend­des­sen rasen wir mit 220 km/h durch die Land­schaft und wir legen eine Stre­cke in nur 70 Minu­ten zurück, die er und sei­ne Mut­ter wohl in meh­re­ren Tagen oder Wochen über­win­den muss­ten. Wir durch­flie­gen eine Land­schaft, die über­haupt kei­ne Ähn­lich­keit hat mit sei­ner Hei­mat. Was er wohl denkt? Was sei­ne Mut­ter wohl durch den Kopf geht? Ich traue mich nicht zu fra­gen.

Aber ein Gefühl macht sich in mir breit: Hier bin ich allein und auch ein Frem­der! Hier bin ich in mei­nem „deut­schen“ Zug allein unter die­sen Flücht­lin­gen und ich weiß nicht, was es bedeu­tet zu flie­hen. Ich woll­te schon ein­mal vor Klau­su­ren flie­hen, für die ich nicht gelernt habe und auch vor Gesprä­chen, in denen mir mit Recht der Kopf zurecht gerückt wer­den soll­te. Aber ich muss­te noch nie flie­hen, weil mir mei­ne Hei­mat genom­men wur­de und mein Leben bedroht wor­den ist.

In die­sem Moment erfüllt mich ein­fach nur Trau­er, weil ich kei­ne Ver­bin­dung zu der Situa­ti­on der Men­schen um mich her­um in die­sem Wag­gon auf­bau­en kann. Ich kann ihnen nur ihre Kraft­lo­sig­keit anse­hen und dane­ben das Spiel des Jun­gen, der äußer­lich so kaputt aus­sieht. Und ich bin mit­ten­drin. Mit­ten­drin in dem, was ich bis­her nur im Fern­se­hen und in Media­the­ken gese­hen und in Zei­tun­gen gele­sen habe. Mit­ten­drin und nicht mehr nur dabei. Ich bin kein Zuschau­er mehr, denn hier sit­ze ich mit­ten­drin im Flücht­lings­zug von Wien nach Ham­burg.

Foto: Andre­as Levers: Tran­sit (CC BY-NC 2.0)