Mut zur Lücke

von Gastbeitrag

Mut zur Lücke

von Gastbeitrag

Vor ein paar Tagen hat­te ich mal wie­der die Gele­gen­heit alte Papier­sta­pel zu durch­fors­ten und aus­zu­mis­ten. Wie sich her­aus­stell­te, hat­ten sich in einem stil­len Win­kel eini­ge Ord­ner mit Mate­ri­al und Unter­la­gen aus dem Stu­di­um ange­sam­melt, das nun schon ein paar Jah­re hin­ter mir liegt. Ich gebe zu, ich habe nicht lan­ge gebraucht, um sie durch­zu­se­hen und aus­zu­sor­tie­ren. Das meis­te habe ich weg­ge­wor­fen. Nur ein paar aus­ge­wähl­te Vor­le­sungs­mit­schrif­ten habe ich ganz bewusst ver­wahrt, weil ich damit noch sehr posi­ti­ve Erin­ne­run­gen ver­bin­de.

Man­che Leu­ten mögen an der Stel­le ein­wer­fen: „Aber Moment mal, du kannst doch nicht das alles, wofür du jah­re­lang geschuf­tet hast, ein­fach so weg­wer­fen! Über­leg mal, wie viel Schweiß und Trä­nen dich das gekos­tet hat!“ (Und natür­lich Kopier­geld!) Dann den­ke ich mir: Doch, ich kann! Eben des­we­gen. Die­sen gan­zen Krem­pel weg­zu­wer­fen, hat mich ein Stück frei­er gemacht. All die Jah­re war es anstren­gend genug, immer wie­der neu zu ent­schei­den, was davon wirk­lich mei­ne Zeit und Ener­gie wert war, wor­auf ich den Fokus legen woll­te und was ich ver­nach­läs­si­gen konn­te. Denn alles zu ler­nen, was zwi­schen den Zei­len ein­ge­for­dert wur­de, zu bear­bei­ten und sich inten­siv damit aus­ein­an­der­zu­set­zen, das war schlicht und ergrei­fend unmög­lich. Wenn ich all die Ord­ner mit ver­dich­te­ten Infor­ma­tio­nen ver­wah­re, dann hat das nur den Effekt, dass sich in mei­nem Unter­be­wusst­sein ein Gefühl anla­gert, nicht alles erle­digt, nicht alles bear­bei­tet zu haben. Ja, ein Gefühl der Man­gel­haf­tig­keit. Da ist immer eine inne­re Stim­me, die sagt: wenn du spä­ter mal Zeit hast, dann kannst du dich ja noch mal ein­ge­hend damit beschäf­ti­gen. Spä­ter, irgend­wann …

Da gibt es so vie­le The­men und Fel­der, die mich inter­es­sie­ren und die span­nend sind, aber ich weiß, dass ich höchst­wahr­schein­lich in mei­nem beruf­li­chen All­tag (und auch ohne den äuße­ren Druck, es wirk­lich ler­nen zu müs­sen) mich die­sen The­men nicht in grö­ße­rem Umfang wid­men wer­de. Indem ich die­se Sachen weg­wer­fe, schaf­fe ich mir wie­der ein Stück Frei­raum. Ich befreie mich von mei­nen eige­nen Erwar­tun­gen. Ich sage mir: Es ist in Ord­nung, das nicht alles zu wis­sen. Mut zur Lücke! Es wird Zeit, den Infor­ma­ti­ons­dschun­gel los­zu­las­sen und wie­der für etwas Über­blick zu sor­gen.

Und was hat das Gan­ze mit mei­nem Glau­ben zu tun? Ich könn­te an die­ser Stel­le Koh 1,18 zitie­ren:

Denn: Viel Wis­sen, viel Ärger, / wer das Kön­nen mehrt, der mehrt die Sor­ge.

Ich stau­ne immer wie­der dar­über, wie prä­zi­se ich mich manch­mal mit mei­nen all­täg­li­chen Sor­gen und Gedan­ken in der Weis­heits­li­te­ra­tur der Bibel wie­der­fin­den kann und gera­de das fin­de ich auch so span­nend dar­an. Ich tref­fe auf das Hadern und die Pro­ble­me, aber auch auf die Hoff­nung und den Glau­ben von Men­schen aus ver­gan­ge­nen Zei­ten, und es kommt mir ganz aktu­ell vor. Wie der Ver­fas­ser des Buches Kohe­let berich­tet, bringt ihn die Anhäu­fung von Wis­sen nicht wei­ter, zumin­dest ist sie nicht der garan­tier­te Schlüs­sel zum Glück. Doch eigent­lich woll­te ich an die­ser Stel­le nicht vor der Meh­rung des Wis­sens war­nen. Es geht um etwas ande­res.

Ich glau­be, die­ses Gefühl, eine Sache, ein The­ma, einen Gegen­stand hun­dert­pro­zen­tig erfas­sen zu kön­nen, das ist ein gro­ßer Traum des Men­schen, denn es ver­schafft schein­ba­re Sicher­heit und Über­blick in einer oft unüber­sicht­li­chen Welt. Aber natür­lich ist der Mensch nicht dar­auf aus­ge­legt und des­we­gen gar nicht in der Lage dazu, da er Mensch ist. Neh­men wir z.B. das Gebot, sich von Gott kein Bild zu machen. Ich soll mir von Gott kein Bild machen, d.h. ich soll ihn nicht auf etwas fest­le­gen, über das ich mei­ne ver­fü­gen zu kön­nen. Aber es bedeu­tet gleich­zei­tig auch, ich brau­che es nicht zu tun. Mei­ne Gren­zen als Mensch sind da schon inbe­grif­fen und auf­ge­ho­ben.

Ich kann Gott spü­ren, ich kann ihn ahnen, aber ich bin befreit von dem Druck, ihn ganz erfas­sen zu kön­nen und zu müs­sen. Kei­ne wis­sen­schaft­li­che Abhand­lung der Welt könn­te das. Dass der Mensch ein Wesen mit Gren­zen ist, steckt im Glau­bens­pro­fil schon drin. Trotz­dem ist er aner­kannt. Und wenn ich mir das an den ent­schei­den­den Stel­len in mei­nem All­tags­le­ben ins Gedächt­nis rufe – und sei es bei so etwas Gewöhn­li­chem wie Unter­la­gen sor­tie­ren – geht es mir gleich bes­ser.

Chris­tia­ne Schmitz

Foto: suze / photocase.de