Im Sys­tem Kir­che

von Jonas Zechner

Im Sys­tem Kir­che

von Jonas Zechner

Es gibt Tage, die sind ein­fach uner­träg­lich. Die sind furcht­bar. Die hal­te ich nicht aus. Da will ich alles hin­wer­fen und ein­fach etwas ande­res tun, jemand ande­res sein. Am letz­ten Don­ners­tag* war so ein Tag.

In Mün­chen wur­den von einer unab­hän­gi­gen Anwalts­kanz­lei die Ergeb­nis­se ihrer Nach­for­schun­gen zu Fäl­len von sexu­el­lem Miss­brauch inner­halb der katho­li­schen Kir­che im Erz­bis­tum Mün­chen und Frei­sing ver­öf­fent­licht. Was sie vor­tru­gen war nicht wirk­lich über­ra­schend, aber des­halb nicht weni­ger erschüt­ternd. Zahl­rei­che Bischö­fe, bis hin zu einem eme­ri­tier­ten Papst, haben die Unwahr­heit gesagt, mit absur­den Rela­ti­vie­run­gen ver­sucht ihr Han­deln zu erklä­ren und so das Leid von zahl­rei­chen Opfern noch ver­grö­ßert. Die Reak­tio­nen waren deut­lich und eben­falls erwart­bar.

In mei­nen Twit­ter­bubbles waren auch jen­seits der übli­chen Per­so­nen, die sich kri­tisch mit der Kir­che aus­ein­an­der­set­zen, auch Stim­men zu hören, die bis ins Mark erschüt­tert waren; von Men­schen, die der Kir­che nahe­ste­hen. Und von Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen, die ihrem Frust Aus­druck ver­lie­hen, die spür­bar mit sich und ihrer Kir­che ran­gen. Ich kann es so gut nach­voll­zie­hen – aber ich kann die dau­ern­de Erschüt­te­rung auch nicht ertra­gen, weil ich zuneh­mend mer­ke: Die­se Erschüt­te­rung ist die Erschüt­te­rung des eige­nen Selbst­bil­des, aber sie hat nichts, aber auch gar nichts, mit dem wirk­li­chen Leid der Opfer zu tun. Und die­ses Leid ist weit schwe­rer, wenn­gleich ich das Ver­hal­ten der frus­trier­ten Kolleg:innen gut ver­ste­hen kann.

Da gab es auf Twit­ter Sät­ze, die mir nach­ge­gan­gen sind. Eini­ge waren dif­fe­ren­zier­ter, ande­re eher pole­misch. Zwei Sät­ze sind mir beson­ders hän­gen geblie­ben:

„Von den guten Pries­tern, die frü­her für mich ein Grund waren, trotz allem in der Kir­che zu blei­ben, erwar­te ich inzwi­schen, dass sie end­lich selbst aus­tre­ten.“ Und ich fra­ge mich, ob dies nicht auch für Nicht­pries­ter gilt.

Und: „Komi­sches Gefühl. Ich füh­le mich unwohl dabei, als Bediens­te­ter die­ser Kir­che ins Bett zu gehen und mor­gens als sol­cher auf­zu­wa­chen. #Kir­che #Miss­brauch #Macht­miss­brauch“

Mat­thi­as Katsch, eine der füh­ren­den Stim­men der Men­schen mit Miss­brauchs­er­fah­rung, bedankt sich für die­se Stim­men: „Dan­ke für eure Soli­da­ri­tät heu­te.“ Und ein ande­rer User frag­te einen Pries­ter: „Was wür­de es für einen Unter­schied machen, ob Sie aus­tre­ten oder nicht?“ Die­se Fra­ge stel­le ich mir auch. Macht das einen Unter­schied, ob ich blei­be? Kann ich blei­ben?

Ich bin in mei­nem Bis­tum für Glau­bens­kom­mu­ni­ka­ti­on und Ver­kün­di­gung, aber auch für alle Fra­gen rund um den Wie­der­ein­tritt zustän­dig. Wie kann ich Mit­glied die­ses Sys­tems sein und hier die­se Auf­ga­be erfül­len?

Ich bin durch mei­ne Bio­gra­fie in einer pri­vi­le­gier­ten Situa­ti­on. Kir­che war für mich fast immer ein Ort der Frei­heit und des Ver­trau­ens. Hier habe ich im Jugend­ver­band — beim Pfad­fin­den — erlebt, wie Selbst­wirk­sam­keit funk­tio­niert. Hier habe ich mich zum ers­ten Mal ver­liebt, ich durf­te ich Ver­ant­wor­tung tra­gen, hier wur­de ich gese­hen, konn­te wach­sen, mich ent­fal­ten. Ich durf­te in mei­nem Theo­lo­gie­stu­di­um ler­nen kri­tisch zu den­ken. Fast nie hat­te ich das Gefühl, dass mir das kirch­li­che Kor­sett zu eng wür­de. Nie wur­de mir irgend­wie Leid ange­tan.

Das ist kei­ne Selbst­ver­ständ­lich­keit. Die­ses Pri­vi­leg haben nicht alle. Ich hat­te immer das Bedürf­nis, das, was ich an Gna­de, an Gutem emp­fan­gen habe, wei­ter­zu­ge­ben. Ich habe sie­ben Jah­re lang in der Jugend­ab­tei­lung des Bis­tums gear­bei­tet und ver­sucht, ande­re Kin­der und Jugend­li­che teil­ha­ben zu las­sen an dem Geschmack der Frei­heit und des Ver­trau­ens. Und ich fra­ge mich heu­te: Habe ich das Sys­tem sta­bi­li­siert? Habe ich damit etwas bewahrt, was nicht zu bewah­ren ist? Und ich fra­ge mich das in aller Nach­drück­lich­keit und habe noch kei­ne Ant­wort. Ein ande­rer Kol­le­ge sag­te mir „Es ekelt mich im Moment, mei­ne Arbeits­stät­te zu betre­ten.“ Auch die­ses Gefühl ken­ne ich.

Wie geht es jetzt wei­ter?

Zunächst bin ich sehr froh, dass im Bis­tum Aachen bereits 2020 den Weg der (exter­nen) Auf­ar­bei­tung beschrit­ten wur­de!

Und ich bin dank­bar für die ein­deu­ti­ge und kla­re Hal­tung die Bischof Die­ser in die­sen Tagen bezieht.

Und doch bin per­sön­lich bin ich noch nicht fer­tig. Per­sön­lich rin­ge ich, wie ich in die­ser Kir­che sein kann und will.

Mit mei­nem Dienst möch­te ich wei­ter einen Unter­schied machen — ich möch­te die unter­stüt­zen, deren Stim­men viel zu häu­fig über­hört wur­den und wer­den.

Muti­ge Men­schen, wie zum Bei­spiel die, die sich bei der Kam­pa­gne ’ #OutIn­Church” für eine Kir­che ohne Angst’ stark­ma­chen.

Ich glau­be auch, dass die­ser Blog ein Ort sein kann, die­ser Visi­on zu fol­gen.

Wie das genau aus­se­hen kann, weiß ich noch nicht genau.

Aber nur so kann ich zur Zeit wei­ter­ge­hen – im Sys­tem Kir­che.

Foto: Clint Adair/Uns­plash 

*Anmer­kung: Die­se Geschich­te ist am 26. Janu­ar 2022 ver­öf­fent­licht wor­den.