Der Name der Rose (1. Teil)
von Jonas Zechner
Der Name der Rose (1. Teil)
von Jonas Zechner
Frühjahr 2014
In einer Gruppe stehen sie dicht gedrängt zusammen, feixen und stecken ihre Köpfe zusammen – jungen Menschen, in der Chorhalle des Aachener Doms. Vor ihnen steht Herr M, ein netter älterer Mann, der irgendwo zwischen freundlichem Großvater und arriviertem Hochschullehrer changiert. Der goldene Kasten mit Glashülle, um den sich die Gruppe versammelt, wird von ihnen teils neugierig, teils desinteressiert gemustert.
Herr M ergreift das Wort: „War von euch schon mal jemand verliebt?“ Verschämte Blicke, Gekichere, aber auch die eine oder andere scheu nach oben gestreckte Hand. „Wer von euch ist gerade glücklich verliebt und in einer Partnerschaft?“ Ein paar Hände bleiben oben. „Und wer von euch hat ein Bild seines Partners heute dabei?“ Es findet sich tatsächlich jemand, der aufzeigt. „Ok, ich gebe dir, sagen wir 20 Euro, wenn Du das Foto jetzt zerreißt!“ Ungläubiger aber entschiedener Protest! „Nein?! Auf keinen Fall also? — Warum nicht? Es ist doch nur Papier, das chemisch behandelt ist!“ „Ok, das Foto ist also wichtig, weil es eben mehr ist als nur das? Es erinnert dich an deinen Partner, den du lieb hast?!“ Die Gruppe ist jetzt ganz bei der Sache! „Ja, das verstehe ich. Bei den Dingen hier im Goldschrein ist das für mich und viele andere Menschen ganz ähnlich. Hier liegen ganz besondere Stoffstücke. Stoffe, die für uns als Christinnen und Christen wichtig sind, weil sie uns an wichtige Aspekte unseres Glaubens erinnern, die uns Kraft geben, wenn es einmal besonders schwierig ist.
Das Tuch der Enthauptung von Johannes dem Täufer bedeutet für mich, dass manche meiner meiner Überzeugung so wichtig sind, dass ich mich stark mache und für sie einstehe, auch wenn das sehr sehr schwer und mit persönlichen Nachteilen verbunden sein kann … Die Windel Jesu sagt mir, dass Gott nicht irgendwo weit weg und verborgen auf einem Thron sitzt, sondern uns so sehr liebt, dass er bei uns sein will, dass er ein Kind wird, dass nun ja, auch auf Windeln angewiesen war … Das grobe, blutbefleckte Leinentuch soll Jesus am Kreuz getragen haben. Es zeigt mir, dass der Gott an den ich glaube, ein Gott ist, der auch die Abgründe menschlichen Leidens kennt, weil er sie selbst am eigenen Leib erlebt hat … Und schließlich, das Kleid Mariens das mich an die Kraft und Energie einer jungen Frau erinnert, die aus freien Stücken zu einer persönlichen Herausforderung ja sagen kann und dabei die Situation um sich herum nicht aus dem Auge verliert …*
All das ist mir in meinem Leben wichtig und trägt mich wenn es einmal schwierig wird. Und so ging und geht es vielen Menschen in und um Aachen! Diese Stoffe waren und sind Hoffnungszeichen seit langer Zeit! Ob 1945, als die durch den Krieg geretteten Heiligtümer in der völlig zerstörten Stadt wieder gezeigt werden konnten, oder eben heute, 2014.“ Die Gruppe lauscht den Ausführungen von Herrn M gebannt. Es scheint, als würden sie verstehen, was es mit den Tüchern auf sich hat. Auch ich bin berührt und nachdenklich. Und so verlasse ich den Dom beschenkt mit einer für mich ganz neuen Perspektive. Und doch nehme ich etwas nicht wahr. Etwas, an dem ich schon jahrelang jeden Tag gedankenlos auf meinem Arbeitsweg vorbeigehe. Etwas, das mich Jahre später einholt …
* Aus dem Lukasevangelium: Da sagte Maria: »Ich bin die Dienerin des Herrn. Was du gesagt hast, soll mit mir geschehen. …(Der Herr) hat die in alle Winde zerstreut, deren Gesinnung stolz und hochmütig ist. Er hat die Mächtigen vom Thron gestürzt und die Geringen emporgehoben. Den Hungrigen hat er die Hände mit Gutem gefüllt und die Reichen hat er mit leeren Händen fortgeschickt.