Am Ende eines Lebens

von Simone Müller

Am Ende eines Lebens

von Simone Müller

Don­ners­tag­abend, 21.00 Uhr. Mit Lap­top und Tee mache ich es mir auf der Couch gemüt­lich. Fünf Minu­ten spä­ter klin­gelt erwar­tungs­ge­mäß mein Han­dy. „Hey, guten Abend – alles gut bei Dir?“ – ein paar Sät­ze gehen hin und her, was gera­de so los ist bei uns, wir erzäh­len uns, wie fit oder müde wir gera­de sind. „Okay, dann wie immer – ich hole Dich ab, wenn was kommt?“ Ja, so machen wir’s. „Auf eine ruhi­ge Nacht, schlaf gut und bis spä­tes­tens mor­gen!“ Ich lege das Han­dy aus der Hand, über­prü­fe die Tasche, die fer­tig gepackt im Flur steht, lege noch eine Was­ser­fla­sche rein und neh­me im Gegen­zug den Piep­ser mit auf die Couch.

Um 21.30 Uhr schal­te ich den schon­mal ein – die Bereit­schaft für die Not­fall­seel­sor­ge beginnt eigent­lich erst um 22.00 Uhr, aber mir hilft es, nicht erst um fünf vor „bereit“ zu sein. Ich sin­ke zurück auf die Couch, ver­bren­ne mir die Zun­ge am Tee und ver­su­che, nicht zu ange­spannt zu sein. Auch nach zwei Jah­ren, in denen ich schon eini­ge Bereit­schaf­ten über­nom­men habe, ist das nicht immer leicht. Bei jedem Blau­licht, jeder Sire­ne, die drau­ßen vor­bei­fährt, wer­de ich hell­hö­rig, prü­fe immer wie­der Piep­ser und Han­dy. Nichts. Ich gehe ins Bett. Der Mel­der liegt auf dem Nacht­tisch, mein Schlaf ist unru­hig, wie immer in die­sen Näch­ten.

3.51 Uhr – es piept. Bin­nen zwei Sekun­den bin ich senk­recht und bis der Anruf kommt, wohin wir fah­ren und um was es geht, habe ich schon die Kon­takt­lin­sen drin, ein Kau­gum­mi ein­ge­wor­fen und bin start­be­reit. Wie ver­ab­re­det samm­le ich mei­ne Kol­le­gin ein. Wir fah­ren durch die dunk­le Stadt in eine Wohn­ge­gend. Alles ist still. Als wir aus­stei­gen, trifft zeit­gleich der ärzt­li­che Bereit­schafts­dienst ein. Wir betre­ten gemein­sam die Woh­nung. Ein älte­rer Mann mit einer heik­len Vor­er­kran­kun­gen ist plötz­lich ver­stor­ben. Sei­ne Frau bit­tet uns her­ein, sicht­lich auf­ge­löst. Wir gehen mit ihr in die Küche, wäh­rend der Arzt die nöti­gen Unter­su­chun­gen vor­nimmt. In der Küche erzählt sie, dass sie in der Nacht irgend­wann unru­hig gewor­den ist, als Ihr Mann nicht ins Bett kam. Sie woll­te schau­en, ob er auf der Couch ein­ge­schla­fen ist, wie so oft in letz­ter Zeit. Dort hat sie ihn gefun­den. Den Not­arzt geru­fen, gedacht, sie beglei­te ihn noch­mal ins Kran­ken­haus – das kennt sie schon. Doch es war nichts mehr zu machen. Sie erzählt von ihrem gemein­sa­men All­tag, von Zubett­geh-Gewohn­hei­ten und muss abwech­selnd lächeln, weil sie so glück­lich waren und wei­nen, wenn die trau­ri­ge Erkennt­nis sich Bahn schlägt.

Irgend­wann bit­tet der Arzt sie zurück ins Wohn­zim­mer. Er konn­te eine natür­li­che Todes­ur­sa­che fest­stel­len – wir atmen auf; das erspart dem Ver­stor­be­nen und auch sei­ner Frau viel in die­sem Moment. Wir spre­chen noch kurz mit ihr, ob sie noch etwas braucht, ob sie jeman­den anru­fen will, wir war­ten sol­len, bis Ange­hö­ri­ge da sind. Oft ist das so, in vie­len Ein­sät­zen scheu­en es Ange­hö­ri­ge, allei­ne mit den Ver­stor­be­nen zu blei­ben, selbst wenn eigent­lich nichts dage­gen spricht.

Doch in die­ser Nacht ist es anders. Nein, sie brau­che nichts mehr. Ihre Nach­ba­rin wis­se Bescheid. Sie will den frü­hen Mor­gen allein mit ihrem Mann ver­brin­gen, bevor sie alles in die Wege lei­tet. Sie will Abschied neh­men, für sich selbst die Schrit­te gehen, die jetzt dran sind. Ihn viel­leicht noch­mal ordent­lich zude­cken, die Hän­de strei­cheln, die Stirn küs­sen. Und irgend­wann die Wohn­zim­mer­tür schlie­ßen und den Bestat­ter anru­fen.

Zum Abschied umar­men wir sie und tre­ten hin­aus in den her­auf­zie­hen­den Mor­gen. Ein paar Vögel sind wach gewor­den und kräch­zen. Die Stadt erwacht lang­sam und wir fädeln uns schwei­gend in den Ver­kehr ein.

„Kaf­fee?“ – Unbe­dingt.

Foto: Kool­Shoo­ters/pexels.com