Im Fluss blei­ben

von Thomas Hoogen

Im Fluss blei­ben

von Thomas Hoogen

Mor­gen­spa­zier­gang in einem Dorf an der Weser. Am Ufer­weg zwi­schen Gär­ten und Was­ser taucht nach Kohl­köp­fen, Kin­der­schau­keln und Blu­men­töp­fen ein hal­bes Dut­zend Fisch­ge­rip­pe auf. Sie ste­hen auf einer Gar­ten­mau­er Spa­lier und sind aus Eisen­schrott zusam­men­ge­setzt: die Grä­ten waren mal Spitz­ha­cken, die Schwän­ze Schau­feln. Auf Augen­hö­he schau­en sie alle, die vor­bei­kom­men, mit ihren lee­ren Augen an.
Dahin­ter eine Tafel, die vom Was­ser als Ursprung des Lebens spricht. Und davon, dass etwas nicht stimmt, wenn die Fische ihr Lebens­ele­ment Was­ser ver­las­sen. Und dass auch das Lebe­we­sen Mensch im Fluss blei­ben muss. Denn, so das Fazit: alles fließt.
In einer Mischung aus Bewun­de­rung der Kunst­wer­ke und Betrof­fen­heit über die ein­dring­li­che Bot­schaft gehe ich wei­ter.
Vom rie­si­gen Nach­bar­grund­stück kommt mir ganz lei­se brum­mend etwas Gepan­zer­tes ent­ge­gen: Auf den ers­ten Schreck (der Gar­ten ist nicht ein­ge­zäunt) folgt die Erleich­te­rung: Der schwar­ze Rie­sen­kä­fer ist ein Rasen­mäh­ro­bo­ter. Kurz bevor wir auf­ein­an­der­tref­fen, macht er an der Grund­stücks­gren­ze kehrt und sucht auf einer neu­en Fahr­bahn das Wei­te.
Ich muss an mei­ne letz­te, ähn­lich über­ra­schen­de Begeg­nung mit einem sei­ner Art­ge­nos­sen den­ken: Als ich im Som­mer Freun­de besu­che, biegt der Mäher just in dem Moment um die Ecke, als ich an der Haus­tür auf die Klin­gel drü­cke: ein fremd­ge­steu­er­ter Tür­ste­her oder ‑öff­ner?
Stut­zig wer­de ich, als beim Wei­ter­ge­hen an der Weser auch der nächs­te Rasen von einem Auto­ma­ten bear­bei­tet wird: Die Fische neh­men ab, die Mäh­kä­fer zu. Das zwei­te Gerät zieht nicht nur kreuz und quer lan­ge Bah­nen, die im Mor­gen­tau ein rie­si­ges Schnitt­mus­ter bil­den. Es dreht zwi­schen­durch auch Krei­se und lässt so außer schma­len Strei­fen run­de Flä­chen ent­ste­hen – wie klei­ne Hub­schrau­ber­lan­de­plät­ze. Beson­ders bizarr sieht es aus, wenn der Appa­rat mit der Mit­te eines neu­en Krei­ses beginnt und dafür eine Pirou­et­te macht. Das wirkt für einen Moment, als wäre er durch­ge­dreht.
Ich las­se ihn wei­ter Spi­ra­len und schrä­ge Bah­nen zie­hen und ver­su­che im Wei­ter­ge­hen, sei­ne Bewe­gun­gen mit dem Flie­ßen der Weser auf der ande­ren Sei­te des Weges zu ver­glei­chen.
Weder der son­ni­ge Herbst­mor­gen noch die bei­den gra­sen­den Pfer­de auf der gegen­über­lie­gen­den Fluss­sei­te kön­nen nach die­ser Vor­stel­lung etwas an mei­ner Nach­denk­lich­keit ändern. Das alles hat wie eine Per­for­mance auf mich gewirkt. Dabei war es nur Rea­li­tät.
In ihrer unnach­ahm­li­chen Mischung aus Skep­sis, Wür­de und Gelas­sen­heit, die nur ihre Spe­zi­es beherrscht, blin­zelt mir auf dem Rück­weg zum Quar­tier von einer Vor­gar­ten­bank eine schwarz­wei­ße Kat­ze zu.

Foto: Pho­to by Mak­sym Tym­chyk/Uns­plash