Das A und O

von Thomas Hoogen

Das A und O

von Thomas Hoogen

Ein­fahrt in den Köl­ner Haupt­bahn­hof. Das Nach­bar­gleis glei­tet immer lang­sa­mer an mei­nem Fens­ter vor­bei – die bekann­te Mischung aus Schil­dern, Fahr­plä­nen, Rekla­me­ta­feln und Men­schen. Aber halt, was war das: eine Gleis­ab­schnitts­an­zei­ge mit dem Buch­sta­ben O? Der Köl­ner Haupt­bahn­hof ist zwar groß, aber Abschnit­te von A bis O? Das wäre von der Län­ge ver­mut­lich über die Deut­zer Brü­cke bis kurz vorm nächs­ten Bahn­hof. Ich kann gera­de noch recht­zei­tig den Kopf dre­hen, um zu sehen, dass am ande­ren Ende des Mas­tes für das gegen­über­lie­gen­de Gleis ein A steht. Und jetzt fällt mir auf, dass es kein O son­dern die kreis­run­de Neon­röh­re hin­ter der feh­len­den Abde­ckung ist. Hin­ter jedem A ein O, den­ke ich.

Mir fal­len Beschil­de­run­gen in ande­ren Län­dern ein, die mich, statt mir den Weg zu wei­sen oder anders wei­ter­zu­hel­fen, eher ver­wirrt und in die Irre gelei­tet haben. Auch das Gleis 9 3/4 aus Har­ry Pot­ter mit dem dazu­ge­hö­ri­gen Bahn­hof, den ich vor Brexit und Coro­na nicht in Rich­tung Hog­warts son­dern Cam­bridge ver­ließ.

Ori­en­tie­rung ist das A und O beim Rei­sen. Nur in weni­gen Situa­tio­nen ist es mir egal, wohin es geht, oder lege ich es sogar dar­auf an, irgend­wo­hin zu kom­men, wo ich gar nicht hin woll­te. So wie mir jetzt mei­ne Schwes­ter vom Tag ihrer Abschluss­prü­fung erzähl­te, als sie, nach­dem alles vor­bei war, völ­lig los­ge­löst ent­schloss, in der Stra­ßen­bahn ihrer Stadt bis zur End­sta­ti­on sit­zen zu blei­ben, wo sie noch nie war. Oder wie in der Geschich­te „Der Abste­cher“ von Franz Hoh­ler, in der jemand aus einer Lau­ne her­aus in Bern nicht in den Zug nach Zürich, son­dern in den nach Sin­ga­pur steigt – um nach der Abfahrt vom Kon­duk­teur zu erfah­ren, dass es ein Zug ohne Zwi­schen­halt ist…

Irgend­wie hän­gen Anfang und Ende, Infor­ma­ti­on und Des­in­for­ma­ti­on, Ver­wir­rung und Ori­en­tie­rung zusam­men.
Im Unter­wegs­sein sein jeden­falls steckt das alles, und noch viel mehr: die Fra­gen nach dem Woher und nach dem Wohin, nach dem A und O in mei­nem Leben – und dar­über hin­aus. Sie las­sen sich sel­ten mit ein­zel­nen, ein­deu­ti­gen Weg­mar­ken und Infos beant­wor­ten, die­se Fra­gen. Und vom Ende her Den­ken, wie die ans Ende ihrer Amts­zeit kom­men­de Kanz­le­rin rät, klappt auch nicht immer. Was und wer das A und O für mich ist, muss ich mich unter­wegs also immer wie­der neu fra­gen. Ohne Garan­tie auf Ant­wort: manch­mal gibt es außer dem Weg kein Ziel, auch wenn ich es mir anders wün­sche.
Ohne für mich selbst zu klä­ren, wohin ich will, kom­me ich eben­so wenig dort­hin wie ohne auf andere/s zu hören und mich dar­an neu zu ori­en­tie­ren.
In die­sem Urlaub stel­len mir auch Pan­de­mie und durch die Flut zer­stör­te Infra­struk­tur und Lebens­plä­ne Fra­gen nach dem Woher und Wohin.

Wo kämen wir hin,
wenn jeder sag­te,
wo kämen wir hin,
und kei­ner gin­ge mal nach­se­hen,
wo man hin­kä­me,
wenn man hin­gin­ge.

(Kurt Mar­ti)

Foto: Aaron Bur­den/Uns­plash