Ich habe den Tod getroffen.
von Jonas Zechner
Ich habe den Tod getroffen.
von Jonas Zechner
Triggerwarnung:
Der nachfolgende Text beinhaltet Angaben/Schilderungen u.a. zum Thema Tod und zu suizidalem Handeln. Sollten Sie selbst Redebedarf haben, finden Sie unterhalb des Textes Nummern und Kontaktdaten, an die Sie sich gerne wenden können.
Ich habe den Tod getroffen.
Spätherbst 2006.
In meiner Heimatregion stand ein großes kirchliches Fest an. Ein bekannter Sozialpriester, der sich im 19. Jahrhundert im Kampf gegen soziale Notlagen in einer jungen Industriestadt stark engagierte und dort für Frauen und junge Kinder sozial gewirkt hat, wurde seliggesprochen. Es war ein großes Volksfest. Ein Kardinal war da und ganz, ganz viele Menschen. Ministrant:innen aus allen Teilen des Bistums waren gekommen. Überall herrschte Feststimmung und Freude, es war Leben und Lachen. Vor dem Dom drängelten sich die Gläubigen. Ein großer festlicher Gottesdienst mit allem was die katholische Tradition hergab. Musik, Gesang und Fahnen, Leben in Fülle.
Nach dem Gottesdienst drängelten sich die Gläubigen um den sogenannten Domnapf, eine große Schale aus Sandstein, die 1580 l Wein fassen kann und die zu ganz besonderen Festen wie diesem gefüllt wird und an der sich alle Gläubigen bedienen kann.
Ich erinnere mich, wie das Leben pulsierte und auch an den Burger, den ich nach dem Gottesdienst mit Wonne gegessen habe.
Nach dem Gottesdienst und dem bunten Treiben fuhren wir als Gruppe mit dem Zug zurück in unsere Heimatstadt. Irgendwann stoppte der Zug, mitten auf dem platten Land, und mein Ministrant:innenleiter sagte noch: „Guck nicht nach rechts“ und natürlich habe ich doch nach rechts geschaut.
Da sah ich, wie Helfende eine Plane in der Hand hielten und mit dieser gerade den Leichnam einer jungen Frau abdeckten, der neben den Gleisen lag.
Und plötzlich war das bunte Treiben wie eingefroren.
Der schnelle, schrille, lebendige Tag war auf einmal ganz langsam und still geworden.
Gute 10 Jahre später.
Wir saßen am späteren Abend als Familie zusammen, das Telefon klingelte. Am Telefon war die Pflegerin meiner Großmutter. Sie teilte mit, dass der Tod meiner Großmutter eingetreten war. Wir stiegen ins Auto und fuhren zum Wohnhaus meiner Großmutter und dort begann der nötige Ablauf. Wir riefen den zuständigen Notarzt an, dieser kam und begutachtete den Leichnam. Ich erinnere mich, wie er uns aus dem Zimmer herausschickte, nach kurzer Zeit die Zimmertür öffnete und uns die Kopie des Totenscheines aushändigte. Wir versuchten dann noch den städtischen Bestatter zu erreichen. Dieser teilte uns jedoch mit, dass er erst am nächsten Morgen kommen würde.
Uns war klar, dass einer von uns die Nacht in diesem Haus verbringen musste und mir war es wichtig, dies zu tun. Irgendwann verabschiedete sich meine Familie und ich blieb alleine im Haus. Ich ging noch einmal in das Zimmer und nahm mir bewusst Zeit, bei meiner Großmutter zu sitzen. Da verstand ich zum ersten Mal was es heißt, wenn man sagt: „Die Seele formt den Menschen, seinen Leib“.
Da war etwas, was sie ausmachte, nicht mehr da.
Wie das Kleid einer Tänzerin, das nach der Gala fein säuberlich auf der Kleiderpuppe drapiert ist, und noch eine Idee gibt von dem furiosen Tanz, den es um malen durfte.
Ich hatte keine Angst und auch keine Sorge; es war etwas Gefasstes in mir.
Es war für mich eine wichtige Nacht.
Das Bild, wie der Bestatter am nächsten Tag kam und meine Großmutter aus ihrem Haus trug, habe ich noch heute in meinem Kopf.
Zweimal bin ich dem Tod begegnet, zweimal hatte er eine sehr unterschiedliche Gestalt. Ich frage mich, wie es wohl für mich sein wird, wenn ich ihm beim nächsten Mal begegnen werde.
Wie wird er mir entgegentreten?
Überraschend, in Stille, vorbereitet, sprachlos oder ganz anders?
Werde ich dann bereit sein, ihn willkommen zu heißen oder wird er mich erschrecken, wie ein Einbrecher, mitten in der Nacht?
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Foto: Jamie Hagan/Unsplash