Ich habe kei­ne Wor­te dafür

von Anja Biroth

Ich habe kei­ne Wor­te dafür

von Anja Biroth

Ich hat­te mir für den Feri­en­be­ginn vor­ge­nom­men, mal wie­der für Raum­rau­schen zu schrei­ben – doch alles, was ich in den letz­ten Wochen an Gedan­ken gesam­melt und an Tex­ten ange­fan­gen hat­te, schien mir plötz­lich zu banal zu sein. Nach­dem das Unwet­ter im Wes­ten Deutsch­lands gewü­tet, Ort­schaf­ten sowie Exis­ten­zen zer­stört und Men­schen­le­ben been­det hat­te, stand ich sprach­los vor die­sem Aus­nah­me­zu­stand, dem Leid und vor mir selbst. Einen Text in der Woche nach die­ser Kata­stro­phe zu ver­öf­fent­li­chen, der eine der­ar­ti­ge Not­la­ge unbe­ach­tet lässt, schien mir igno­rant, jedoch einen Text dar­über zu schrei­ben, völ­lig unmög­lich. Ent­spre­chend blieb der Blog­bei­trag in die­ser Woche aus.

Ange­sichts sol­cher Lei­d­er­fah­run­gen und huma­ni­tä­ren Kata­stro­phen habe ich kei­ne Wor­te mehr. Alles, was im All­tag bedeu­tungs­voll erscheint, wird augen­blick­lich zunich­te gemacht, Lebens­weis­hei­ten gera­ten an ihre Gren­zen. Was soll man Men­schen sagen, deren Exis­tenz­grund­la­ge weg­ge­schwemmt wur­de, die ihr Lebens­pro­jekt oder sogar gelieb­te Men­schen über Nacht, alles, was ver­traut und bedeu­tend war, ver­lo­ren haben, wie die­se Men­schen trös­ten? In extre­men Not­si­tua­tio­nen erle­be ich die Macht­lo­sig­keit mei­ner Wor­te, es blei­ben nur Ges­ten und Taten. Über die­se möch­te ich nun schrei­ben (auch wenn ich dafür auf Wor­te ange­wie­sen bin), über die Hilfs­be­reit­schaft und den Akti­vis­mus, die ich in Ahr­wei­ler gese­hen bzw. erlebt habe, denn in die­ser Mensch­lich­keit liegt etwas Tröst­li­ches.

Nach­dem ich ca. eine Woche nach der Flut­ka­ta­stro­phe im Whats­App-Sta­tus eines Bekann­ten gese­hen hat­te, wie ver­wüs­tet das Haus und das Café sei­ner Eltern waren, schrieb ich ihn ein­fach an und frag­te, ob noch Helfer*innen gebraucht wer­den. Er teil­te mir mit, dass jede Hil­fe will­kom­men sei, wor­auf­hin eine Freun­din und ich Frei­tag­mor­gen zu dem Park­platz im Indus­trie­ge­biet in Graf­schaft fuh­ren, um von dort aus einen Shut­tle­bus für frei­wil­li­ge Helfer*innen in das Kri­sen­ge­biet zu neh­men. Die Schlan­ge der Frei­wil­li­gen, in die wir uns ein­reih­ten, war über­wäl­ti­gend. Ort­schaf­ten, die mit Klein­bus­sen ange­fah­ren wer­den soll­ten, wur­den über ein Mega­fon aus­ge­ru­fen und die Fahr­zeu­ge maxi­mal aus­ge­las­tet, Lade­flä­chen und Kof­fer­raum­be­rei­che für Steh­plät­ze genutzt; Anschnall­gur­ten und Abstands­re­geln schenk­te man kei­ne Beach­tung. In dem Kri­sen­ge­biet ver­lor vie­les Gewohn­te an Gül­tig­keit.

Es ver­gin­gen zwei Stun­den bis wir das vom Park­platz nur sie­ben Kilo­me­ter ent­fern­te Ahr­wei­ler erreich­ten, fast eine wei­te­re Stun­de, bis wir uns von der Stel­le, die der Shut­tle­bus anfah­ren konn­te, zu Fuß ins Zen­trum gekämpft hat­ten, wo das Café war. Der Fuß­weg war not­wen­dig, um auch men­tal anzu­kom­men und zu begrei­fen, was man sah. Alle Bil­der, die ich aus den Medi­en kann­te, konn­ten die Dimen­si­on der Zer­stö­rung und das Cha­os, das vor Ort herrsch­te, nicht wie­der­ge­ben. Der Ort glich einer Trüm­mer­land­schaft, erin­ner­te mich an Kriegs­bil­der, er berei­nig­te schlag­ar­tig von Mach­bar­keits­wahn und Über­heb­lich­keit. Das fort­schritt­li­che Deutsch­land hat­te es nicht geschafft, die Men­schen zu beschüt­zen und gegen das Cha­os und den Scha­den vor­zu­ge­hen. Dass die Über­schwem­mung bereits eine Woche zurück­lie­gen soll­te, konn­te man in Anblick der Ver­wüs­tung kaum glau­ben. Alles war ver­schlammt — Stra­ßen und Men­schen -, an den Häu­sern konn­te man den Was­ser­stand erken­nen, vor die­sen türm­ten sich Gegen­stän­de, die mit einer ein­zi­gen zähen, schlam­mi­gen Mas­se teils zu Nicht­de­fi­nier­tem ver­schmol­zen. Autos stan­den in Gär­ten und in Vor­hö­fen, auf dem jüdi­schen Fried­hof neben umge­fal­le­nen Grab­stei­nen — durch die Flut teils auch auf­ein­an­der­ge­scho­ben.

Klein, macht­los, ver­gäng­lich kam ich mir vor, ganz beschei­den muss­te ich mir ein­ge­ste­hen, dass ich kei­ne beson­de­ren Fähig­kei­ten mit­brach­te, die hilf­reich sein wür­den. Ich hat­te nur mich, mei­ne Gum­mi­stie­fel, mei­nen Eimer, einen Spa­ten, Mus­kel­kraft und Wil­lens­stär­ke. Ich konn­te nicht das leis­ten, was Men­schen mit ihren Gerä­ten aus dem Agrar­be­reich oder von Bau­un­ter­neh­men, was Men­schen bei der Feu­er­wehr, der Bun­des­wehr oder dem THW bewerk­stel­li­gen konn­ten. Trotz allem hat­te ich das Gefühl, dass es gut war, dort zu sein und dass es wirk­lich auf jede*n Einzelne*n ankam.
Die meis­ten Türen und Fens­ter stan­den offen und nah­men unbe­kann­te Helfer*innen auf, um gemein­sam das zu stäm­men, was allei­ne nicht zu schaf­fen ist. Es gab kein ich, nur ein wir. Jede*r ver­such­te einen Teil bei­zu­tra­gen. Wenn der Kel­ler eines Hau­ses aus­ge­räumt bzw. aus­ge­ho­ben war, ging man zum nächs­ten.
Die Stim­mung war weder trost­los noch hoff­nungs­voll, es herrsch­te ein­fach eine unglaub­li­che Dyna­mik, ein gro­ßer Akti­vis­mus. Men­schen kamen mit ihren Mög­lich­kei­ten und Mit­teln, es spiel­te kei­ne Rol­le, wer man war. Selbst die Bewohner*innen von den Häu­sern waren zum Teil in die­ser regen und rast­lo­sen Men­ge nicht als die­se zu erken­nen. Man frag­te nicht viel, man begne­te sich nur und ver­such­te sich in den Rhyth­mus der Arbeits­ket­ten ein­zu­fü­gen, war ein­fach Mensch unter Men­schen. In all der Dyna­mik lag eine gro­ße Acht­sam­keit. Es wur­de nicht viel gespro­chen, son­dern ein­fach gehan­delt.
Die Gegen­stän­de, die aus dem Schlamm geho­ben wur­den, erzähl­ten aller­dings Geschich­ten — von ver­gan­ge­nen Weih­nachts­fes­ten, Rei­sen, Inter­es­sen, Fer­tig­kei­ten. Durch die Schlamm­mas­sen war alles unbrauch­bar gewor­den. Die Illu­si­on, sich mit einer Woh­nung, dem Besitz, etwas Blei­ben­des oder zumin­dest etwas von Wert und Bestän­dig­keit geschaf­fen zu haben, wur­de von jetzt auf gleich zer­stört.

Die­ser Ort hat mich tief berührt, einer­seits das uner­mess­li­che Leid, der Ver­lust, die Macht­lo­sig­keit, ande­rer­seits die Erfah­rung, dass so vie­le Men­schen ver­su­chen, die­ses Leid auch nur ein wenig mit­zu­tra­gen, wie wir in den Tie­fen der­ar­ti­ger Tra­gö­di­en auf uns selbst, unser nack­tes Mensch­sein zurück­ge­wor­fen wer­den und alle Äußer­lich­kei­ten sowie gesell­schaft­li­che Unter­schie­de ver­schwin­den. Radi­kal und ehr­lich wird man mit dem Mensch­sein kon­fon­tiert,
wenn man sich in die Tie­fe wagt.

Foto: Mari­an Kro­ell/Uns­plash