Som­mer­song

von Thomas Hoogen

Som­mer­song

von Thomas Hoogen

Jetzt ist Som­mer!

Um das zu mer­ken, brau­che ich weder Kalen­der noch Ther­mo­me­ter. Ich kann es hören. Die aktu­el­len Locke­run­gen der Pan­de­mie­re­geln ver­stär­ken, was auch sonst gilt: Der Som­mer klingt – und zwar ziem­lich divers.

Klei­nes Geräusch­pro­to­koll von einem Fuß­weg die­ser Tage am frü­hen Abend: Im Stra­ßen­ver­kehr zuneh­mend Motor­rad­ge­brumm und quiet­schen­de Rei­fen von Play­boy­starts. In Stra­ßen­ca­fés und beim Park­pick­nick: ent­spann­tes Geplap­per und Geklap­per und (unter­schied­lich ent­spann­tes) Eltern-/Kin­der­ge­läch­ter bis ‑geschrei. Am Wei­her Enten­ge­schnat­ter und Fon­tä­nen­ge­plät­scher. Im hin­te­ren Park­teil ist die Ghet­to­blas­ter-Gang mit Wum­mer­bäs­sen zugan­ge. „Was wohl die Älte­ren in den Häu­sern drum­her­um davon hal­ten“, den­ke ich – bis hin­ter der nächs­ten Kur­ve, wo der Allein­un­ter­hal­ter bei der Schla­ger­pa­ra­de auf der Senio­ren­heim-Ter­ras­se laut­stär­ke­mä­ßig locker mit­hält. Kurz vorm Ziel noch ein High­light: der Zum­ba-Kurs im Fit­ness-Stu­dio bei offe­nem Fens­ter mit für Unbe­tei­lig­te ziem­lich mar­tia­lisch klin­gen­dem Ein­peit­scher. Zwi­schen­drin unter­wegs: Vogel­ge­zwit­scher — Ori­gi­nal-Tweets. Auch die Piep­mät­ze legen sich bei genau­em Hin­hö­ren rich­tig ins Zeug – zumin­dest bis Son­nen­un­ter­gang, der ja in die­sen Tagen mit der 10-Uhr-Sperr­stun­de zusam­men­fällt.

End­lich sind wie­der Chor­pro­ben erlaubt – wenn auch nur out­door, mit Nach­weis und klei­ner Beset­zung wegen Min­dest­ab­stand. Nach einem knap­pen Jahr Pau­se ist das (gemein­sa­me) Sin­gen wie die Rück­kehr nach Hau­se nach län­ge­rer Abwe­sen­heit: ver­traut und unge­wohnt zugleich.

Mit der geball­ten Ladung Leben in der Natur lädt der Som­mer zum Aus-sich-Her­aus­ge­hen ein, zu guter Lau­ne, Ent­span­nung oder Par­ty­stim­mung — trotz aller Ver­nunft­grün­de, gera­de jetzt und rück­bli­ckend und vor­aus­schau­end und sowie­so grund­sätz­lich zurück­hal­tend und umsich­tig zu sein.

Mir fällt dazu neben unzäh­li­gen Som­mer­hits der letz­ten Jahr­zehn­te ein Song ein, der es sogar ins Evan­ge­li­sche Gesang­buch geschafft hat: „Geh aus, mein Herz, und suche Freud in die­ser lie­ben Som­mer­zeit.“ Nicht ganz unse­re Spra­che, aber der Text ist auch knapp 370 Jah­re alt. Er ent­stand kurz nach einem Krieg, der im dama­li­gen Deutsch­land ein Drit­tel der Bevöl­ke­rung das Leben kos­te­te – 6 Mil­lio­nen Todes­op­fer.

Trotz die­ser extre­men Aus­nah­me­si­tua­ti­on, die auch das Leben der Über­le­ben­den radi­kal ver­än­dert haben muss, ist der Text von 1653 voll guter Lau­ne und Über­schwang — mit sage und schrei­be 15 Stro­phen. Und er fährt eine beacht­li­che Geräusch­ku­lis­se auf: rau­schen­de Bäche und das „Lust­ge­schrei“ von Scha­fen und Hir­ten. Ler­chen, Stör­che, Hir­sche, Bie­nen und vie­les mehr tau­chen auf. Jung und Alt jauch­zen über den Wei­zen, der „mit Gewalt“ wächst. Und es geht auch um mich: „Ich sel­ber kann und mag nicht ruhn“ und „ich sin­ge mit, wenn alles singt.“Außerdem gibt’s eine Vor­ankün­di­gung für den dicks­ten aller Sounds, in „Chris­ti Gar­ten“: „Wie muss es da wohl klin­gen, da so viel tau­send Sera­phim, mit unver­dross­nem Mund und Stimm ihr Hal­le­lu­ja sin­gen.“

Knapp hun­dert Jah­re spä­ter tex­tet ein ähn­lich Unver­dros­se­ner für ein Beer­di­gungs­lied: „Tobe, Welt, und sprin­ge, ich steh hier und sin­ge.“

Am bes­ten fasst das alles der Som­mer­hit von 2001 zusam­men: „Som­mer ist, wenn man trotz­dem lacht.“ Und wer neu­gie­rig auf die 15 Stro­phen ist: Evan­ge­li­sches Gesang­buch Nr. 503.

Foto: Robert Bye/Uns­plash