Es ist nicht egal.

von Christian Schröder

Es ist nicht egal.

von Christian Schröder

Mein größ­tes Pro­blem ist immer der Schlaf­man­gel. Wenn ich weni­ger als sie­ben Stun­de bekom­me, funk­tio­nie­re ich am nächs­ten Tag nicht rich­tig. Das ist schon zu Hau­se schwer genug, aber wenn ich im Som­mer mit 60 Jugend­li­chen plus Lei­tungs­team zwei Wochen unter­wegs bin, habe ich kaum eine Chan­ce auf aus­rei­chend Schlaf. An die­sem Abend will ich eigent­lich nur noch ins Bett. Der Tag war lang, mor­gen früh geht’s direkt wei­ter mit Früh­stück, Ein­kaufs­pla­nung und dem nächs­ten Aus­flug.

Und dann schaue ich plötz­lich in zwei ver­heul­te Augen, die mei­nem Blick aus­wei­chen. Sie ist unsi­cher, ob sie über­haupt näher kom­men soll. Ob sie mir trau­en kann. Ich habe kei­ne Ahnung, wor­um es geht. Ein Freund ist bei ihr und redet ihr gut zu. „Mit Chris­ti­an kannst du dar­über reden, glaub’s mir“. Ich rät­se­le immer noch, was pas­siert sein könn­te. Dass es nicht um eine Lap­pa­lie geht, sagen mir ihre Augen, die mich jetzt ab und an kurz fixie­ren, aber kei­nen Kon­takt auf­bau­en wol­len und wie­der weg huschen. „Wol­len wir uns dort­hin set­zen?“, schla­ge ich vor und zei­ge auf eine Sitz­ecke. Weit genug weg von den Wegen derer, die nur mal eben noch Zäh­ne put­zen wol­len.

In den ver­gan­ge­nen Jah­ren habe ich vie­le sol­cher Gesprä­che geführt. Das gehört zu mei­nem Beruf als Seel­sor­ger, und weil ich mit Jugend­li­chen arbei­te geht es oft um ähn­li­che The­men: Lie­bes­kum­mer, Krach mit den Eltern, die eige­ne Zukunft. Aber hier habe ich das Gefühl, dass noch­mal etwas Beson­de­res dazu­kommt. Sie fin­det lan­ge kei­ne Wor­te, setzt immer wie­der an, spricht sich irgend­wann sel­ber Mut zu: „Okay, also ich muss das jetzt ein­fach fra­gen. Ich mei­ne, du hast schließ­lich die Bibel gele­sen“. Ich sage ihr, dass ich in mei­nem Beruf eine Ver­schwie­gen­heits­pflicht habe und – was immer sie mir sagt – ich nichts davon wei­ter­sa­gen darf, wenn sie es nicht will. Schließ­lich traut sie sich. „Ich bin…homosexuell“. Sie benutzt die­ses Wort, kein ande­res. Sie war­tet und schaut mich ängst­lich an. Ich weiß nicht mehr genau, was ich gesagt habe, aber offen­bar ent­nimmt sie mei­nem fra­gen­den Blick, dass ich durch die­se Offen­ba­rung allein noch nicht ver­stan­den habe, wo das Pro­blem liegt. Nun wird sie muti­ger und erzählt. Von der Mut­ter, die das nicht wahr­ha­ben will. Von der Tan­te, die sagt, dass sei gegen Gott und die Bibel. Und wie ihre Mut­ter die­ses The­ma nun abblockt und nicht mehr dar­über spricht.

Sie erzählt mir das alles nicht, um es ein­fach nur los­zu­wer­den – der Freund, der sie zu mir beglei­tet hat, weiß das alles längst. Sie will von mir, dem Theo­lo­gen, wis­sen, ob die Tan­te und die Mut­ter Recht haben. Sie hat die Bibel­ver­se im Ohr, die ihr woan­ders vor­ge­hal­ten wur­den. Sie will wis­sen, ob die stim­men. Ob es wirk­lich gegen Gott ist „so“ zu sein. Also gebe ich Aus­kunft über das, was ich dar­über weiß und wovon ich zutiefst über­zeugt bin. Dass die­se Bibel­ver­se etwas ande­res mei­nen. Dass viel grund­le­gen­der in der Schrift der Glau­be an die gute Schöp­fung Got­tes ist. Und dass Gott auch sie so geschaf­fen hat. Und dass Lie­be immer von Gott kommt, weil Gott Lie­be ist. Und ich kann sehen, wie etwas von ihr abfällt, wie sie ruhig wird, wie die Trä­nen trock­nen, wie sie sich auf­rich­tet. Wir reden noch lan­ge an die­sem Abend. Mein Schlaf ist jetzt nicht mehr wich­tig.

In den ver­gan­ge­nen Wochen habe ich oft an die­sen Abend vor ein paar Jah­ren gedacht. Ich habe mich gefragt, was wäre, wenn sie sich in ein paar Jah­ren wie­der mel­det. Wenn sie viel­leicht kei­nen Kon­takt mehr zur Kir­che hat, aber sich erin­nert an die schö­ne Zeit, damals in den Feri­en, und an unser Gespräch. Und wenn sie dann freu­de­strah­lend erzählt, dass ihre Freun­din und sie hei­ra­ten wol­len und ob ich sie bei­de seg­nen wür­de. Wie könn­te ich anders, als es zu tun? Wie kann ich den Men­schen „sehr gut“ nen­nen, aber sei­ne Lie­bes­be­zie­hung nicht? Ich wüss­te genau, was ich tun wür­de. Und ich will dafür kei­nen Applaus. Es ist nichts Hel­den­haf­tes. Aber es soll­te end­lich selbst­ver­ständ­lich wer­den.

Es sind gar nicht so weni­ge, die mei­nen, das wäre doch egal. Als wür­de da noch irgend­wer drauf war­ten, dass die alte Mut­ter Kir­che jetzt auch noch ihren Segen gibt.
Es ist nicht egal.
Weil es kost­bar ist, wenn zwei Men­schen sich fin­den und ihr Leben mit­ein­an­der tei­len wol­len. Weil Segen eine Kraft hat, der sie dabei stär­ken kann, das auch zu schaf­fen.
Es ist nicht egal.
Weil es immer noch so vie­le gibt, die ver­letzt sind. Nicht immer von der Kir­che natür­lich. Auch von ihren Eltern, Freun­den, Kol­le­gen. Die sich fra­gen, ob sie so sein dür­fen. Ob sie so lie­ben dür­fen.
Es ist nicht egal, was mei­ne Kir­che dazu sagt.
Weil es wich­tig ist, dass sie die unter­stützt, die Zwei­fel haben, dass Gott sie wun­der­bar und lie­bens­wert geschaf­fen hat.
Es ist nicht egal.

Trans­pa­renz­hin­weis: Die Per­son, von der ich hier erzäh­le, hat die­sen Text vor der Ver­öf­fent­li­chung gese­hen und ihr Ein­ver­ständ­nis dazu gege­ben.

Foto: Rémi Wal­le/Uns­plash