Dafür ste­hen wir eigent­lich!

von Anja Biroth

Dafür ste­hen wir eigent­lich!

von Anja Biroth

Ach­tung! Die­ser Bei­trag möch­te poli­tisch sein – eine per­sön­li­che poli­ti­sche Mei­nung, weil mein Glau­be per­sön­lich ist, aber nicht ein­fach Pri­vat­sa­che.

Von der durch Jonas auf­ge­wor­fe­nen Fra­ge: „Wofür ste­hen wir eigent­lich?“ (in dem Bei­trag vom 17.09.), habe ich mich ange­spro­chen gefühlt, aber auch her­aus­ge­for­dert. Häu­fi­ger erle­be ich, dass Men­schen – ich möch­te mich nicht aus­neh­men – wis­sen, gegen was sie sind, was sie nicht wol­len, aber sehr vor­sich­tig gewor­den sind, eine posi­ti­ve Hal­tung und Zuge­hö­rig­keit zum Aus­druck zu brin­gen. Doch mei­ne Iden­ti­tät ergibt sich nicht ein­fach aus einer viel­fa­chen Abgren­zung, son­dern wich­ti­ger noch ist mei­ne Zuge­hö­rig­keit – um zu wis­sen, wer ich bin, muss ich doch wis­sen, zu wem, wohin ich gehö­re, was ich beja­he. Vie­len fällt es leicht, eine kla­re Zuge­hö­rig­keit zu einem Sport- oder Fuß­ball­ver­ein zu for­mu­lie­ren, bei poli­ti­schen und reli­giö­sen Aus­sa­gen erfah­re ich viel Zurück­hal­tung – ganz nach der All­tags­re­gel: Poli­tik, Reli­gi­on und Sexua­li­tät sind kei­ne Small­talk-The­men, die soll­te man (bei­spiels­wei­se bei einem Geschäfts­es­sen) bes­ser aus­spa­ren. Ich ver­spü­re aller­dings ein puber­tä­res Trotz­ver­hal­ten in mir, gera­de die­se tabui­sier­ten Berei­che anzu­spre­chen und zu dis­ku­tie­ren, weil die­se wich­tig sind und ich Men­schen – viel­leicht auch mich selbst – aus der Kom­fort­zo­ne locken möch­te.

In gewis­ser Wei­se ist das als Leh­re­rin ja auch mein Job. Die in unse­rer Gesell­schaft vor­han­de­ne Angst, dass die eige­nen Ansich­ten die Hal­tung und Lebens­wei­se eines ande­ren infra­ge stel­len und Posi­tio­nie­run­gen als Bevor­mun­dung erfah­ren wer­den könn­ten, führt in der Schu­le dazu, dass Schüler*innen dank­bar sind, wenn sie direk­te Fra­gen stel­len, Ant­wor­ten erhal­ten und dar­über dis­ku­tie­ren dür­fen. Als ich mit Jugend­li­chen zu Beginn des Schul­jah­res über die Bedeu­tung der Kir­che für das per­sön­li­che Leben gespro­chen habe, kri­ti­sier­ten vie­le, dass Kir­che kaum noch lebens­na­he, lebens­re­le­van­te Ant­wor­ten lie­fert, in Kri­sen zu wenig Prä­senz zeigt und pro­fil­los gewor­den ist. Ein Groß­teil hat­te weder eine zustim­men­de noch eine ableh­nen­de Hal­tung, son­dern begeg­net der Kir­che und dem christ­li­chen Glau­ben mit Gleich­gül­tig­keit, weil Inhal­te und Selbst­aus­sa­gen nicht mehr greif­bar erschei­nen, dem kaum noch Bedeu­tung für das per­sön­li­che Leben bei­gemes­sen wird. Daher hal­te ich es für unver­zicht­bar, die von Jonas for­mu­lier­te Fra­ge in die­sem Zusam­men­hang zu stel­len – weil die Ant­wort dar­auf in unse­rem gesell­schaft­li­chen Bewusst­sein nicht mehr unbe­dingt gege­ben ist.

Wir müs­sen uns wie­der stär­ker auf den Wesens­kern der christ­li­chen Bot­schaft besin­nen, Ant­wor­ten wagen und ver­su­chen die lebens­prak­ti­sche Rele­vanz zum Vor­schein zu brin­gen. In die­sem Sin­ne habe ich die Fra­ge auch als Appell an mich ganz per­sön­lich ver­stan­den, mein Christ­sein auf­rich­tig sowie kon­se­quent zu den­ken und dies zu leben. Der Bei­trag von Jonas kon­fron­tiert uns Leser*innen unmiss­ver­ständ­lich mit dem Herz der christ­li­chen Bot­schaft und ich möch­te her­aus­stel­len, dass ich bis­her sel­ten einen Satz gele­sen habe, indem das Gen­der­stern­chen der­ma­ßen not­wen­dig sowie bedeu­tend anmu­te­te und es mich auf­rich­tig berührt hat: „Lie­be deine*n Nächste*n wie dich selbst.“ Mei­ner Mei­nung nach erhält die­se Auf­for­de­rung, an die wir uns durch das häu­fi­ge Zitie­ren lei­der gewöhnt zu haben schei­nen, sodass wir uns des Inhalts in sei­nem vol­len Umfang des Öfte­ren nicht mehr bewusst sind, sei­ne uni­ver­sa­le Gül­tig­keit und somit sei­ne Aus­sa­ge­kraft wie­der. Wie Jonas in sei­nem Text bedeu­tungs­voll schluss­fol­gert, soll­te die­se unbe­ding­te Lie­be dem Men­schen nicht nur unab­hän­gig von Geschlecht, son­dern auch von Abstam­mung, eth­ni­scher Zuge­hö­rig­keit, Her­kunft, Reli­gi­on (u.a.) gel­ten und ent­ge­gen­ge­bracht wer­den. Mit der Erläu­te­rung: „Das hat nichts mit Poli­tik zu tun. Das ist christ­lich. Das ist mensch­lich“, endet der Bei­trag, der zugleich eine poli­ti­sche Posi­tio­nie­rung des diö­ze­sa­nen Ver­bän­de­ra­tes im Bis­tums Aachen recht­fer­ti­gen möch­te.

Ich kann der abschlie­ßen­den Erläu­te­rung jedoch nur teil­wei­se zustim­men. Das Gebot der Nächs­ten­lie­be ist ohne Fra­ge christ­lich – es ist Aus­gangs­punkt christ­li­cher Ethik. Es ist eben­so grund­le­gend mensch­lich – da die Fähig­keit, zu lie­ben, mora­li­sche Ent­schei­dun­gen zu tref­fen und das Han­deln danach aus­zu­rich­ten, wesens­be­stim­mend für uns Men­schen ist. Der Mensch begeg­net so sich selbst in sei­nem Mensch­sein, wür­digt glei­cher­ma­ßen sein Gegen­über als Men­schen. Wie grund­le­gend die­ses Gebot für uns, wie uni­ver­sal und unbe­streit­bar gesetz­ge­bend es ist, bezeu­gen das Grund­ge­setz und die All­ge­mei­ne Erklä­rung der Men­schen­rech­te. Ich – als Mensch und als Christ und als Teil die­ser Gesell­schaft – möch­te und tre­te dafür ein, dass die­ses Gebot, die­ser ethi­sche Grund­satz unse­re Gesell­schaft sowie unser zwi­schen­mensch­li­ches Mit­ein­an­der gestal­tet. Eine der­ar­ti­ge Posi­tio­nie­rung und die Ein­fluss­nah­me eines Chris­ten, eines Bis­tums, einer Kir­che auf den öffent­li­chen Bereich, aber auch auf pri­va­te Mei­nun­gen und die For­de­rung, das eige­ne Wahl­ver­hal­ten in Hin­blick auf eine christ­li­che Ethik zu reflek­tie­ren, ist poli­tisch – und das ist gut so.

Als Christ habe ich nicht nur eine bestimm­te Hal­tung zu Gott, son­dern ich neh­me (aus der Got­tes­be­zie­hung her­aus) auch eine bestimm­te Hal­tung zu der Welt und den Mit­men­schen und nicht zu Letzt zu mir selbst ein. Wenn ich das ernst neh­me und kon­se­quent lebe, ver­än­dert das Gesell­schaft und for­dert mich zu einer poli­ti­schen Hal­tung her­aus. Vor eini­gen Wochen habe ich von mei­nem Pri­vi­leg, in einer Demo­kra­tie zu leben und ein Recht auf freie Mei­nungs­äu­ße­rung zu haben, Gebrauch gemacht und mit einem Schild: „Men­schen­rech­te ken­nen kei­ne Gren­zen“, für die Eva­ku­ie­rung von Moria demons­triert. Dies war mir als Mensch und Christ ein tie­fes Bedürf­nis. Mei­ne poli­ti­sche Hal­tung lässt sich nicht von mei­ner christ­li­chen iso­lie­ren. Wür­de ich es ver­su­chen, hät­te ich den Ein­druck, mei­nem Glau­ben nicht gerecht zu wer­den, der gelebt wer­den will.

Jesus ist für mich nicht nur ein Mensch der Wor­te, son­dern glei­cher­ma­ßen der Taten. Sei­ne Bot­schaft ist eine Ein­heit von Wort und Tat. Das Neue Tes­ta­ment möch­te kei­ne net­ten Sprü­che für ver­staub­te Poe­sie­al­ben lie­fern, son­dern zum Han­deln auf­for­dern und die Welt zu einem bes­se­ren, lie­be­vol­le­ren Ort machen. Ich fin­de es daher völ­lig rich­tig, das eige­ne Wahl­ver­hal­ten vor dem Hin­ter­grund einer christ­li­chen Ethik zu reflek­tie­ren und hal­te es für legi­tim, ein­fach mal zu fra­gen: „Was wür­de Jesus tun?“ Er wür­de mit Sicher­heit nicht Men­schen zur Macht ver­hel­fen, die men­schen­ver­ach­ten­de Inhal­te und Zie­le ver­fol­gen, kei­ne Par­tei wäh­len, in der Per­so­nen das Leben ande­rer her­ab­wür­di­gen und gering­schät­zen. Aber ver­mut­lich wür­de er sie auch nicht aus­gren­zen, son­dern unter Umstän­den das Gespräch bzw. die Aus­ein­an­der­set­zung suchen. Mög­li­cher­wei­se wür­de er zu Wahl­ver­an­stal­tun­gen gehen und Men­schen fra­gen: „Vor was hast du Angst? Was fehlt dir zum Leben?“ Even­tu­ell wäre er auch ent­täuscht und wütend, dass Men­schen, die so viel Gutes haben, trotz des­sen so beschränkt lie­bes­fä­hig sind. Viel­leicht wür­de er Men­schen, die ande­ren den Wert und das Lebens­recht abspre­chen, um das eige­ne Selbst­wert­ge­fühl und gefühl­te Lebens­recht auf­zu­wer­ten, auch sagen, dass sie wert­voll sind.

Ich den­ke, eine Demo­kra­tie wie auch das Chris­ten­tum müs­sen eine Par­tei­en­viel­falt (somit auch radi­ka­le Aus­rich­tun­gen) aus­hal­ten, aber der Staat und die Kir­che soll­ten eine kla­re Hal­tung zu die­sen ein­neh­men. Ich kann mit mei­nen christ­li­chen Wer­ten, mei­nem Men­schen­bild, mei­ner Welt­an­schau­ung nicht ver­ein­ba­ren, eine Par­tei zu wäh­len, in der sich Mitglieder*innen ras­sis­tisch und men­schen­ver­ach­tend äußern. Natür­lich erwar­te ich von der Kir­che, dass sie gemäß der christ­li­chen Wer­te sich pro Men­schen­rech­te, Men­schen­lie­be und Gerech­tig­keit aus­spricht. Dafür ste­hen wir – für radi­ka­le Men­schen­lie­be. Je gerin­ger die Akzep­tanz hin­sicht­lich die­ser For­de­run­gen ist, umso not­wen­di­ger erscheint mir eine kla­re und star­ke Posi­tio­nie­rung sei­tens der Kir­che. Jesus war kein Ere­mit, der zurück­ge­zo­gen gelebt und sich aus­schließ­lich „auf’s Beten konzentrier[t]“ hat. Sei­ne Berg­pre­digt hat durch­aus poli­ti­sches For­mat und sein Kreu­zes­tod ist eine Fol­ge von (die Gesell­schaft ver­än­dern­den) Wor­ten und Taten – die­ser folgt draus, dass er etwas gesagt hat, was er nicht hät­te sagen dür­fen, die­ser ist die Kon­se­quenz einer radi­kal geleb­ten Men­schen­lie­be. So kann ich am Ende die Fra­ge, woher die­ser Hass kom­me, nicht beant­wor­ten, doch ich weiß, zu was wir her­aus­ge­for­dert sind: mensch­lich zu sein, christ­lich zu sein – dem Lie­be ent­ge­gen­zu­set­zen. Das ist kei­ne nai­ve, wirk­lich­keits­ver­wei­gern­de oder ver­harm­lo­sen­de Reak­ti­on, son­dern eine beacht­li­che Her­aus­for­de­rung, eine Mensch­heits­auf­ga­be.

Foto: Mei­li­sa Dwi Nur­di­yan­ti/Uns­plash