Über­rasch mich

von Tobias Kölling

Über­rasch mich

von Tobias Kölling

Drei Geschich­ten, alle aus Müns­ter, alle irgend­wann Anfang des Jahr­tau­sends:

Ich sit­ze am Kla­vier im Café Mila­gro und jam­me mit einem Gitar­ris­ten und einem Schlag­zeu­ger plan­los durch die Har­mo­nien. Ich bemer­ke von links eine Bewe­gung und sehe einen her­un­ter­ge­kom­me­nen Typen im Parka mit Fus­sel­bart. Er kniet sich rela­tiv nah neben mir hin und wursch­telt in sei­nem Jute­beu­tel bis er zu mei­nem Ent­set­zen aus­ge­rech­net eine Tri­an­gel her­aus­zieht. Ich rol­le inner­lich mit den Augen, spie­le aber wei­ter und will mich nicht ver­trei­ben las­sen.


Kei­ne Minu­te spä­ter rotiert der selt­sa­me Mann mit 180 Beats per Minu­te durch sei­ne Tri­an­gel. Und in mir bricht eine Mau­er ein. Und als ich spä­ter mit ihm rede, erfah­re ich: Er ist aus­ge­bil­de­ter Orches­ter­mu­si­ker, Per­cus­sio­nist.


Ich sit­ze als Zuhö­rer in einem Café am Bahn­hof und höre einem Mitt­fünf­zi­ger im Anzug zu, der Eric Clap­ton ein wenig ähn­lich sieht, und auch so klingt. Ein jun­ger Mann tritt neben ihn. Ich ver­mu­te er kommt aus einer tür­ki­schen Fami­lie, er trägt Turn­schu­he, Trai­nings­an­zug. Der jun­ge Mann flüs­tert dem Gitar­ris­ten etwas ins Ohr, der nickt und fällt in das gleich­mä­ßi­ge Bluess­che­ma.


Und plötz­lich rappt der Jun­ge über das Leben, die Lie­be und die eine Frau, die ihm nicht aus dem Kopf geht. Und ich fal­le in den Moment hin­ein und hof­fe, er geht nie vor­bei.


Mit­tag­essen im Café Mila­gro. Ent­we­der ich bin noch ganz neu dort, oder die übli­chen bekann­ten Gesich­ter sind an dem Tag nicht da. Das Café ist voll und ich ste­he zusam­men mit einem ande­ren Stu­den­ten mit Tel­ler in der Hand da – nur noch ein Tisch frei. Ich fin­de ihn komisch. Er ist eher pol­ternd und direkt. Und er wohnt im Wohn­heim über dem Café und ich wüss­te nicht, wie ich ihm aus dem Weg gehen soll­te. Aber wir set­zen uns zusam­men hin und über­brü­cken das Essen mit Small Talk. Und ich weiß gar nicht mehr, wer am Ende höf­lich sagt: „Mor­gen wie­der hier?“


Eini­ge Mona­te spä­ter zie­he ich auch im Wohn­heim ein. Und bevor ich in die gemein­sa­me Küche gehe ruft er regel­mä­ßig an und sagt „Stellst Du schon­mal einen Topf Was­ser auf, ich komm gleich rüber.“ Wir leben eine Zeit von Fer­tig­reis­ge­rich­ten oder ‑nudeln und stel­len zusam­men Blöd­sinn im Wohn­heim an. Und letz­tes Jahr hät­te ich mir kei­nen bes­se­ren Trau­zeu­gen vor­stel­len kön­nen.


Wir haben ein­mal über unser ers­tes Tref­fen gere­det. Und ich erzäh­le, wie viel Über­win­dung es mich gekos­tet hat­te, und wie komisch ich das fand. Und er lach­te nur und sag­te: „Tobi, als wir da mit den Tel­lern stan­den hab ich mir nur gedacht ‚Was ist das denn für ein komi­scher Vogel. Oh Gott!“


Ich hab Vor­ur­tei­le. Immer schon und ver­mut­lich auch bis an mein Lebens­en­de.

Aber ich glau­be, ich hab tat­säch­lich irgend­wann begrif­fen, dass ich die bes­ten Momen­te erleb­te, wenn Vor­ur­tei­le durch­bro­chen wur­den, oder ich sel­ber sie ver­suchs­wei­se bei­sei­te gescho­ben habe.

Das kann auch schief­ge­hen.

Aber wenn‘s gut geht sieht die Welt plötz­lich ein klein wenig anders aus.

Foto: Boz­hin Karai­va­nov/Uns­plash