Kraft­ort

von Simone Müller

Kraft­ort

von Simone Müller

Die­ses 2020 ist ganz schön ver­rückt. Aber wem sag ich das. Drei Mona­te schein­bar schie­rer Wahn­sinn — im pri­va­ten wie im gesell­schaft­li­chen Bereich. Schre­ckens­nach­rich­ten, nie zuvor gekann­te Situa­tio­nen, sich über­schla­gen­de Ereig­nis­se, Hor­ror­sze­nen an den euro­päi­schen Außen­gren­zen. Und in all dem geht irgend­wie das Leben wei­ter.

Das fühlt sich reich­lich komisch an und ich mer­ke, wie ich immer wie­der tief Luft holen muss.

Dabei geht mei­ne Erin­ne­rung zurück an den Beginn die­ses Jah­res oder viel­mehr das Ende des letz­ten Jah­res. Eine Kuh­wei­de an der Wald­gren­ze. Gegen­über eine Burg. Auf der Wie­se nur ein schwar­zes Zelt. Mit einem Feu­er in der Mit­te, eini­gen Bän­ken drum­her­um, ein Teil mei­ner Liebs­ten dar­auf. Ein Ritu­al, das mich seit knapp zehn Jah­ren beglei­tet. Zel­ten ins neue Jahr hin­ein. Wenn ich abends in den zu kal­ten Schlaf­sack schlüp­fe kommt immer mal wie­der der Gedan­ke: „War­um tun wir uns das eigent­lich immer noch jedes Jahr an?!“

Als Ant­wort kommt der Sil­ves­ter­tag: Im Tal unter uns Nebel, auf unse­rer Kuh­wei­de Son­ne. Wir neh­men die Schaf­fell­mat­ten mit hin­aus, legen uns auf die Bän­ke, Kaf­fee dazu, unbe­schreib­lich gut. Nach einer Stun­de Sit­zen und Schwei­gen tut mir der Hin­tern weh. Ich lege eine Mat­te ins Gras, zie­he die Socken aus und flie­ße durch ein paar Yoga­hal­tun­gen: Berg. Baum. Held. Adler. Ver­bin­de das Außen mit dem Innen, mich mit der Umge­bung. Ich ern­te belus­tig­te Bli­cke von Wan­de­rern, die an „unse­rer“ Wie­se vor­bei­kom­men, wir wech­seln ein paar net­te Wor­te. Lang­sam zieht der Nebel nach oben, die Son­ne wird schwä­cher. Ein letz­tes Mal tief ein- und aus­at­men. Als ich die Augen wie­der auf­ma­che, sit­zen mei­ne Bes­ten immer noch auf der Bank, schau­en ins Tal und hal­ten sich in den Armen. Das alte Jahr geht, das neue kommt.

Die­se Stun­den sind mein Kraft­ort gewor­den für die­ses Jahr. An die Erin­ne­rung kann ich immer wie­der ando­cken, dort auf­la­den, mich an die Ruhe erin­nern, die Son­ne, die Freund­schaft, die Lie­be. Und unend­lich dank­bar sein für die­ses Geschenk, gera­de in die­sen völ­lig neu­en Zei­ten. Und wis­sen: Alles hat sei­ne Zeit.

Foto: John Rodenn Cas­til­lo/Uns­plash