Mein Gott, mein Gott

von Ulrike Purrer Guardado

Mein Gott, mein Gott

von Ulrike Purrer Guardado

Jeden Mon­tag trifft sich eine Grup­pe von Frau­en unter­schied­li­chen Alters in unse­rem Jugend­zen­trum zum Häkeln. Die Hand­ar­beit ist für sie Krea­ti­vi­tät, Kul­tur, beschei­de­ne Ein­kom­mens­quel­le und Gemein­schaft. Beim Häkeln erho­len sie sich und spin­nen mit­ein­an­der Fäden der Soli­da­ri­tät und des Ver­trau­ens. Manch­mal sit­zen sie schweig­sam im Kreis und tei­len doch unaus­ge­spro­chen so vie­le Sor­gen, Ver­let­zun­gen und Hoff­nun­gen. Nor­ma­ler­wei­se wer­den die flin­ken Bewe­gun­gen ihrer geüb­ten Hän­de jedoch beglei­tet von den unter­schied­lichs­ten Gesprä­chen aus ihrem All­tag.

Kürz­lich haben wir gemein­sam ein paar Psal­men­wor­te gele­sen. Jede durf­te einen Vers aus­wäh­len, der sie beson­ders berühr­te. Von Lob­prei­sung und Dank­sa­gun­gen bis hin zu Weh­kla­gen und ver­zwei­fel­ten Schrei­en war alles dabei. Die Nöte und Freu­den der Men­schen sahen vor mehr als 2000 Jah­ren also gar nicht so anders aus als heu­te. Die Frau­en konn­ten sich pro­blem­los mit den Gefüh­len der Psal­mis­tIn­nen iden­ti­fi­zie­ren: Stau­nen und Dank­bar­keit, Ver­las­sen­heit und Ver­zweif­lung.

Auch Doña A. muss­te nicht lan­ge über­le­gen. „Mein Gott, mein Gott, war­um hast Du mich ver­las­sen?“ (Ps 22, 2) Ihr sieb­zehn­jäh­ri­ger Sohn ist vor einem Jahr auf dem Heim­weg von der Schu­le vor den Augen sei­ner Mit­schü­le­rIn­nen erschos­sen wor­den. Am hel­lig­ten Tag, in sei­ner Schul­uni­form. Wir alle kann­ten ihn als auf­ge­schlos­se­nen Jugend­li­chen und lei­den­schaft­li­chen Fuß­bal­ler. „War­um hast Du mich ver­las­sen?“ Doña A. brauch­te nichts zu erklä­ren, die ande­ren Frau­en ver­stan­den. Auch sie haben fast alle eine/n Angehörige/n oder Freun­dIn an den bewaff­ne­ten Kon­flikt ver­lo­ren, und den­noch besteht für sie kein Zwei­fel – weder an der Exis­tenz noch an der Güte Got­tes. „Unse­re Eltern hoff­ten auf dich, und da sie hoff­ten, halfst du ihnen her­aus“, heißt es spä­ter in dem­sel­ben Psalm. Ich stau­ne über den tie­fen Glau­ben der Frau­en.

Am Ende for­mu­lier­te jede ihren eige­nen Psalm – ein befrei­en­der Moment für die­se Frau­en, die dazu erzo­gen wur­den zu gehor­chen, auch Gott. Doch hier ging es nicht um Ja und Amen. Hier durf­ten sie Gott ein­mal rich­tig in die Man­gel neh­men. „War­um hast du mich ver­las­sen?“ Wie konn­test du das zulas­sen? Woher soll ich immer wie­der neue Kraft neh­men? Am Ende blieb den­noch bei allen die tie­fe Gewiss­heit, dass wir nicht nur auf Gott ver­trau­en, son­dern auch mit ihm hadern dür­fen. Mein Gott, mein Gott.

Foto: Ima­ni/Uns­plash