Schleu­sen­blick und Wel­ten­wech­sel

von Matthias Fritz

Schleu­sen­blick und Wel­ten­wech­sel

von Matthias Fritz

Seit ein paar Jah­ren beglei­te ich einen jun­gen Mann in der Aache­ner Jus­tiz­voll­zugs­an­stalt. Hier sit­zen die beson­ders har­ten Jungs: Mör­der, Ver­ge­wal­ti­ger,… Aber hin­ter die­ser „har­ten“ Tat, steckt auch immer ein wei­cher Mensch. Das habe ich schnell gelernt. Den­noch ist der Ablauf in der JVA ein beson­de­rer. Die­ses Sys­tem hat sei­ne eige­nen Rhyth­men und Sicht­wei­sen auf Men­schen.

Ich bin einer, der dort rein- und raus­ge­hen kann und darf. Trotz­dem muss auch ich am Ein­gang Tei­le mei­ner Iden­ti­tät abge­ben. Hin­ter der ers­ten Schleu­sen­tür ver­schwin­den mein Per­so­nal­aus­weis und mein Han­dy hin­ter Pan­zer­glas. Han­dys sind im Knast ver­bo­ten.

Dann öff­net sich die zwei­te Schleu­sen­tür und ich muss in einer Sitz­ecke war­ten, bis ich in die Räu­me der Seel­sor­ge durch­ge­las­sen wer­de. Bis zu die­sem Raum fol­gen noch ein­mal eine Schleu­sen­tür und vie­le schwe­re Stahl­tü­ren, die nur mit Spe­zi­al­schlüs­seln geöff­net und ver­schlos­sen wer­den kön­nen. Mit jedem Schritt in das Herz der JVA hin­ein, bleibt die Welt irgend­wie immer mehr drau­ßen. Ein „stop and go“ von Schleu­se zu Schleu­se und Tür zu Tür. Ein paar Schrit­te gehen und wie­der war­ten, gehen und war­ten. Ein neu­er Lebens­rhyth­mus.

Dabei fin­det gera­de zwi­schen den Schleu­sen schon ein gro­ßer Teil des JVA-Lebens statt. Hier arbei­ten die Beam­ten der Jus­tiz, hier wer­den Gefan­ge­ne zwi­schen den ver­schie­de­nen Trak­ten bewegt, hier wer­den Besu­cher hin­ein­ge­führt und heu­te sah ich zum ers­ten Mal, wie jemand wie­der ent­las­sen wur­de. „Hof­fent­lich sehen wir uns nicht wie­der!“, sag­te der Jus­tiz­be­am­te und drück­te dem Gegen­über einen roten Schnell­hef­ter mit Doku­men­ten in die Hand. Das gan­ze Leben und die Zeit im Knast in einer Map­pe aus Plas­tik. Danach begann auch für ihn der Schleu­sen­marsch: Er ging und war­te­te, ging und war­te­te und ging aus dem einen Lebens­rhyth­mus in die Welt „da drau­ßen“, jen­seits der ers­ten Schleu­se hin­ein.

So leicht wie ich hier hin­ein­kom­me und raus­ge­he, haben es die Jungs, die hier inhaf­tiert sind, nicht. Außer­dem bekom­me ich auf dem Weg nach drau­ßen vor der ers­ten Schleu­sen­tür mei­ne Iden­ti­tät wie­der, das, was mich aus­wei­sen kann.

Und gera­de dar­an wird mir deut­lich, wie ein­fach es ist, Men­schen ihre Iden­ti­tät zu neh­men und sie radi­kal auf ihre „Lebens­ge­schich­te“ als allei­ni­ge Iden­ti­tät zu ver­wei­sen. Reicht das nicht? Ist das nicht alles?, fra­ge ich mich. Und trotz­dem erken­ne ich an der ers­ten Schleu­se immer wie­der, wie wert­voll ein Per­so­nal­aus­weis und das Han­dy mit allen Kon­tak­ten und Ver­bin­dun­gen sind. Im Knast ler­ne ich schnell wie­der, dass die eige­ne Lebens­ge­schich­te gera­de ohne Iden­ti­täts­mar­ken auch unend­lich anspruchs­voll sein kann.

Foto: Carles Raba­da/Uns­plash