Wenn die Stimme bricht
von Mareile Mevihsen
Wenn die Stimme bricht
von Mareile Mevihsen
Als sie aufsteht und nach vorne geht, droht der Kloß in meinem Hals bereits zu explodieren. Meine Freundin C. ist knapp 1,80 Meter. Auf einmal wirkt sie winzig da oben auf den Kirchenstufen vor der Menge.
“Mein Vater hat Menschen immer gerne unterhalten, ich kann das eigentlich auch. Aber seit er tot ist, fällt mir das schwer …” und ihre Stimme bricht. Ich habe keine Ahnung, wie viele Menschen die Kirche fasst, aber sie ist rappelvoll, wir selber stehen hinten an der Türe, es sind bestimmt 400 Leute anwesend. In diesem Moment könnte man eine Stecknadel fallen hören.
Diese Momente, wenn die Stimme versagt, die kenne ich. Sie sind für mich untrennbar mit meinem Glauben verbunden. Ich kenne sie von meinem Kollegen, wenn er in der Jugendkirche Gottesdienst feiert und es ihn plötzlich überkommt. Ich kenne sie aus der Firmvorbereitung, wenn wir abends mit den Jugendlichen Kerzen angezündet haben. Wenn wir Katecheten da saßen und dachten, dass es gut wäre, wenn jetzt einer von uns “einen raus haut”. Wie oft einer von uns mit sich haderte und selber Angst hatte, vor diesem Moment, weil er wusste, das geht an seine Substanz. Und wie es uns alle mitriss, wenn dann doch einer den ersten Schritt machte. Ich erinnere mich an den Moment, an dem wir bei unserer Hochzeit die Gäste begrüßten und erzählten, warum wir heiraten und was uns der andere bedeutet.
Mir fiel es schon immer schwer, Gott zu denken. Aber in Momenten, in denen die Worte fehlen und die Stimme versagt, da habe ich gelernt ihn zu fühlen, da ist er in mir und um mich und unter uns.
Der evangelische Trauergottesdienst dauert eine Stunde, im Wesentlichen wird geredet. Das ganze Leben des Verstorbenen wird wieder lebendig. Es wird gelacht und geweint. Auch ich tue beides. Er stand mir nicht nahe, aber im gesamten Freundeskreis war er bekannt, ein skurriles Unikat. Ein schwieriger Typ, bei dem ich ahne, dass er ein Großer war, in seiner Arbeit mit erziehungsschwierigen Jugendlichen, die bei ihm landeten, als letzte Station vor dem Jugendknast. Und der gleichzeitig zuhause nicht der Vater sein konnte, den sich seine Töchter gewünscht haben.
Am Ostermontag saßen wir zusammen im Kreißsaal, C. und ich. Ich wartete auf mein Baby, sie auf den Tod ihres Vaters. Nachdem ihre Beziehung zuletzt auf Funkstille war, hatte sie ihren Frieden mit ihm gemacht. Drei Tage später war er tot.
Ich weiß, was es sie kostet an diesem Tag. Da hoch zu gehen vor die Trauergemeinde. Sich verletzlich zu zeigen. Sie hat gelernt sich davor zu schützen. Und als ihre Stimme bricht und die ganze Kirche Rotz und Wasser heult, da kann ich spüren, wie sich etwas löst. Wie diese Seele in Frieden gehen kann.
“Ich glaube”, sagt C., als sie sich wieder gefasst hat, “dass mein Vater sehr glücklich gewesen wäre, dass uns so viel Anteilnahme zu teil geworden ist in den letzten Tagen. Und deshalb weiß ich, dass der Tag kommt, an dem wir alle unsere Stimme wieder finden werden. Wir sind unendlich dankbar.” Und vielleicht ist Trauerfeier der falsche Begriff für so ein Event. Vielleicht müsste es Lebensfeier heißen, denn so fühlt es sich heute an. Und Gott ist mitten unter uns.