„Ich wäre fast gestor­ben …“

von Gastbeitrag

„Ich wäre fast gestor­ben …“

von Gastbeitrag

Ich weiß nicht, wie oft ich in die­sem, mei­nem Leben schon gestor­ben bin.

Jeden­falls ist die Zahl mei­ner Aus­sa­ge „Ich wäre fast gestor­ben“ in leb­haf­ten Unter­hal­tun­gen mit mei­ner Freun­din Annet­te nicht mehr nach­zähl­bar — und trotz­dem lebe ich noch.

Es sind ganz ver­schie­de­ne Momen­te in mei­nem Leben, die ich mei­ner Freun­din dann berich­te und die dann mit die­sem Satz enden. Erleb­nis­se, die aus den ver­schie­dens­ten Emo­ti­ons­re­gun­gen gebo­ren wer­den und ich erin­ne­re mich an vie­le die­ser Momen­te unglaub­lich ger­ne, weil sie so inten­siv für mich waren und sich auf ewig in mei­ne Erin­ne­run­gen ein­ge­gra­ben haben.

Da gibt es Momen­te des Glücks, in denen ich fast vor Freu­de „geplatzt“ bin. Zum Bei­spiel, als ich das ers­te Mal so rich­tig ver­liebt war. Ich weiß es, als wäre es erst ges­tern gewe­sen. Es war zu Beginn mei­ner Uni-Zeit und ich war so der­ma­ßen ver­knallt, wie ich es seit­dem nie wie­der in mei­nem gesam­ten Leben war. Und als die­ser Typ mich plötz­lich frag­te, ob wir uns mal außer­halb der Uni auf nen Whis­ky und eine Zigar­re tref­fen wol­len, muss­te ich mich hin­ter­her auf der Toi­let­te ein­schlie­ßen um nicht in der Öffent­lich­keit hys­te­risch zu jubeln und habe Luft­sprün­ge vor Freu­de gemacht. Und bei unse­rem ers­ten Tref­fen habe ich gleich zwei rote Ampeln auf dem Hin­weg über­fah­ren. Ich wäre fast gestor­ben vor Schmet­ter­lin­ge und Auf­re­gung und Glück. Wenn ich heu­te dar­an zurück­den­ke, ist sogar noch etwas von die­sen auf­re­gen­den Gefüh­len übrig. Eine Erin­ne­rung dar­an, wie unglaub­lich sich das ange­fühlt hat. Manch­mal ist es sogar mehr als nur eine Erin­ne­rung, dann ist es wie eine Sehn­sucht, das noch­mal zu durch­le­ben und die­se Glücks­ge­füh­le noch ein­mal spü­ren zu wol­len.

Ich erin­ne­re mich aber auch an Pein­lich­kei­ten, Momen­te, in denen ich fast vor Scham gestor­ben wäre. Die­ses Gefühl kennt bestimmt jeder, wenn man in ein Fett­näpf­chen tritt und denkt „Erde tu dich auf!“. Die Berich­te die­ser Momen­te sind häu­fig mit einer hys­te­ri­schen und auf­ge­reg­ten Stim­me unter­malt und enden meis­tens eben auch mit den Wor­ten „ich wäre fast gestor­ben!“. Und oft mer­ke ich dann am Gesichts­aus­druck und der Reak­ti­on mei­ner Freun­din, dass sie allein beim blo­ßen Zuhö­ren schon fast mit­ge­stor­ben wäre.

Aber es gibt auch die ruhi­gen und erns­ten Momen­te, in denen ich tat­säch­lich inner­lich fast vor Kum­mer und Schmerz gestor­ben wäre oder es mir viel­leicht sogar gewünscht habe, ein­fach mit­ster­ben zu kön­nen. Das waren zum Bei­spiel die Beer­di­gun­gen mei­nes Vaters und mei­ner Oma. Das Rein­kom­men in die Trau­er­hal­le und dann steht da neben dem Bild dei­nes lachen­den Vaters sei­ne Urne. Ein schreck­lich schwe­rer Augen­blick, wo alles still steht und der Schmerz wie eine Wucht über dich fährt und dir die Luft zum Atmen nimmt.

All die­se ver­schie­de­nen Momen­te, in denen ich fast gestor­ben wäre, haben für mich eine Gemein­sam­keit. Sie waren alle voll von Leben. Das Glück, die Scham, der Schmerz. Die Inten­si­tät der Gefüh­le ist die Glei­che. Sie ließ mich spü­ren, dass ich voll im Leben ste­he, vom Leben umschlos­sen bin. Die Freu­de, die mich zum Lachen bringt so dass ich fast plat­ze, die Pein­lich­keit, die mir die Scha­mes­rö­te ins Gesicht schie­ßen lässt und der Schmerz, der mich inner­lich fast zer­reißt. Das ist das Leben!

Manch­mal den­ke ich mir dann, dass ich mir das auch wün­sche, wenn ich wirk­lich ster­be. Kör­per­lich mei­ne ich, nicht nur im über­tra­ge­nen Sin­ne. Dass ich da das Leben spü­re, das aus mir weicht und zugleich nach mir greift. Gott, der mich umgibt mit all sei­ner Inten­si­tät und Kraft. Das Leben, das mich umschließt. Und dass ich dann allen, die mir vor­aus gegan­gen sind und zu denen ich dann hof­fent­lich wie­der­kom­me, genau­so auf­ge­regt und leben­dig erzäh­len kann und dann schlie­ßen kann: „da bin ich dann gestor­ben!“.

Rapha­e­la Rein­dorf

Foto: Ste­fan Krau­se, Glüh­lam­pe explo­diert (LAL)